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gemeinsam auf dem weg

Ulrike Voigt (Hg.)

Mystikerinnen

Die Kraft spiritueller Frauen

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Ein CAMINO-Buch aus der

Gesamtgestaltung:

ISBN 978-3-96157-004-1

Als E-Book unter der ISBN 978-3-96157-998-3 erhältlich.

INHALT

EINFÜHRUNG DER HERAUSGEBERIN

BIOGRAPHIEN UND TEXTE

Hildegard von Bingen (ca. 1098–1179)

Mechthild von Mageburg (1207–1282)

Hadewijch von Antwerpen (ca. 1220–1260)

Angela von Foligno (1248–1309)

Marguerite Porète (1250/60–1310)

Gertrud die Große von Helfta (1256–1302/03)

Birgitta von Schweden (1303–1373)

Caterina von Siena (1347–1380)

Katharina von Genua (1447–1510)

Teresa von Avila (1515–1582)

Jeanne Marie Guyon du Chesnoy (1648–1717)

Thérèse de Lisieux (1873–1897)

Edith Stein (1891–1942)

Simone Weil (1909–1943)

Madeleine Delbrêl (1904–1964)

Dorothee Sölle (1929–2003)

LEKTÜREEMPFEHLUNGEN UND TEXTNACHWEISE

EINFÜHRUNG

Mystik im Trend – Sehnsucht nach Transzendenz

DIE SUCHE NACH SINN und echten spirituellen Erfahrungen, einem Erleben des Religiösen, prägt die heutige Zeit. So rückt auch das Phänomen der Mystik, das in allen Religionen bekannt ist, wieder in den Blickpunkt des Interesses, und nicht nur in der religiösen Welt. Häufig wird aber dieser Begriff nur als Chiffre gebraucht, um diffusen Sehnsüchten Ausdruck zu geben oder Produkte damit zu vermarkten. So ist beispielsweise das Computerspiel „mystic quest“ ein Klassiker auf dem Markt; ein Spiel, in dem es jede Menge Tempel und Fabelwesen gibt. Doch manches, was hier mystisch genannt wird, wäre eigentlich eher „mythisch“ zu nennen, hat also eher mit alten Erzählungen zu tun.

Der Mystik-Trend im Religiösen, ja, die „Mystikgier der gegenwärtigen religiösen Lage“ (Fulbert Steffensky) geht tiefer und spiegelt die Sehnsucht der Menschen nach etwas, das über die Realität hinausgeht, nach „Transzendenzbedarf“, wie es der Philosoph Jürgen Habermas einmal genannt hat. Die Sehnsucht nach Mystik ist auch ein Zeichen der „Entzauberung der Welt“ (Dorothee Sölle). Da, wo alles rational erklärbar, geregelt und geordnet ist, wo vieles oberflächlich und kurzlebig scheint, sucht man nach echten und authentischen Erlebnissen genauso wie nach glaubwürdigen Vorbildern. Diese Suche offenbart ein spirituelles Defizit, das herkömmliche Religionsformen nicht mehr so einfach befriedigen können.

Von Mystikern erhofft man sich solche authentischen Glaubenserfahrungen, Zeugnisse anderer Wirklichkeit, eine Gegenwärtigkeit des religiösen Erlebnisses, ja Gottesbegegnungen. Dabei ist gerade die Mystik ganz gewiss nichts, was man „jetzt und sofort“ erleben kann. Im Gegensatz zum Beispiel zu Yoga und Zen-Meditation, die sich einüben und praktizieren lassen, gibt es keine „mystische Technik“, auch wenn andererseits mystische Erfahrungen ohne geistig-geistliche Übungen nicht zu denken sind.

Das Christentum verfügt von seinen Anfängen an über eine bedeutende mystische Tradition. Mystik stellt eine zentrale Form christlicher Spiritualität dar. Der katholische Theologe Karl Rahner (1904–1984) stellte fest: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein – oder er wird nicht sein“. Darin drückt sich aus, dass ohne persönliche Gottesbegegnung christlicher Glaube nicht überlebensfähig ist.

Viele Frauen und Männer haben durch die Jahrhunderte der Kirchengeschichte mystische Erfahrungen gemacht, viele dieser Erfahrungen wurden glücklicherweise aufgeschrieben und sind bis heute erhalten. Diese Zeugnisse können Leserinnen und Leser heute noch in ihren Bann ziehen.

Über das Mittelalter, die Blütezeit der christlichen Frauenmystik, ist bereits viel geforscht worden. Eine solche Blüte hat die christliche Frauenmystik aus den verschiedensten Gründen nie mehr erreicht. Mit Mystikerinnen späterer Jahrhunderte seit der Neuzeit hat sich 2008 erstmals eine Ringvorlesung an der Freien Universität Berlin befasst (Middelbeck-Varwick, siehe Anhang). Der 500. Geburtstag der Heiligen, Mystikerin und Kirchenlehrerin Teresa von Avila im Jahr 2015 hat eine Tagung in Fribourg/Schweiz angeregt, die sich mit ihr und anderen Mystikerinnen beschäftigt hat, worüber auch ein Sammelband erschienen ist (Tagungsband: „Dir hat es vor den Frauen nicht gegraut“, siehe Anhang). Eine umfassende Untersuchung oder Würdigung der Frauenmystik insgesamt und ihrer frauenspezifischen Spiritualität gibt es noch nicht.

Dieses Buch möchte daher eine Lücke schließen. Es enthält Biographien und Texte von Frauen aus über 9 Jahrhunderten, die der Mystik zuzurechnen sind, und bietet damit erstmals die Möglichkeit, mystische Traditionen und Erfahrungen über eine sehr lange Zeitspanne und europaweit kennenzulernen und zu verfolgen. Durch den Bezug auf die Bibel und die Einbettung in christliche und kirchliche Tradition erhalten diese Texte eine Kontinuität, die sich wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte zieht. Wer die Zeugnisse liest, wird erstaunt feststellen, dass ihnen – neben aller sprachlichen, historischen und inhaltlichen Gebundenheit an die jeweilige Epoche – etwas Zeitloses, Aktuelles zu eigen ist, das auch heute unmittelbar fesselt.

Was ist Mystik?

Es gibt zahlreiche Versuche, das vielgestaltige Phänomen der Mystik zu definieren. Weiter gefasste Definitionen bezeichnen mit Mystik ein Bewusstsein der Gegenwart Gottes oder eine Spiritualität, die jedem Christen zu Eigen sein sollte (so Rahner im obigen Zitat). Doch in diesem Sinne verstanden büßt die Mystik ihren spezifischen Sinn ein. Versteht man Mystik dagegen als eine besonders tief gehende religiöse Erfahrung – im Gegensatz zu der „alltäglichen“ religiösen Erfahrung –, dann wäre alles Mystik, was sich an Orten besonderer spiritueller Erfahrung, zum Beispiel in Klöstern, ereignet, und wiederum bliebe die Frage nach einem spezifischen Sinn von Mystik unbeantwortet.

Christliche Mystik im engeren Sinn meint eine Begegnung zwischen (dem christlichen) Gott oder Christus und dem Menschen, die sich als eine Vereinigung vollzieht: die so genannte unio mystica (mystische Vereinigung). Das griechische myein, von dem das Wort Mystik abgeleitet ist, heißt wörtlich „die Augen/den Mund schließen“. Die mit inneren Augen („Augen der Seele“, sagt Teresa von Avila) wahrgenommene Vereinigung mit Gott wird von dem oder der Betroffenen zweifelsfrei und real erlebt. Zahlreiche Texte von Mystikern und Mystikerinnen berichten von solchen einschneidenden Gotteserfahrungen: Du schmiegtest Dein geliebtes Antlitz, aus dem die Fülle aller Seligkeit strahlt, an mich Unwürdige, und ich fühlte, wie aus Deinen göttlichen Augen unaussprechlich beseligendes Licht in meine Augen drang. Die wunderbare Wirkung dieses Lichtes ergriff alle meine Glieder, es drang bis ins innerste Mark; es schien mir Fleisch und Bein aufzulösen, und ich hatte die Empfindung, als sei mein Körper und meine Seele nichts als Licht, göttliches Licht. Dein göttliches Licht war das Glück meiner Seele.

(Gertrud die Große)

Die unio mystica, ein transzendentes Ereignis, das über das Irdische hinausgeht, kann mit irdischen Kategorien kaum erfasst werden (silentium mysticum, die mystische Stille). Das Geschehene und Erfahrene ist unbeschreiblich – der Bericht unmöglich:

Aber was soll ich so viele Worte von einem so maßlosen und unerklärlichen Geschehen machen, dessen Größe und Außerordentlichkeit mich im Sprechen verwirrt, da es weder für mich möglich ist, es in Worten auszudrücken, noch für den, der es nicht erlebt hat, es zu verstehen? O erstaunliches Ereignis, von dem sich kein Zeugnis geben lässt, weder mit Worten noch mit Zeichen und Bildern, weder durch Seufzen noch durch Schreien – auf keine Weise.

(Katharina von Genua)

Zugleich ist die mystische Erfahrung geprägt von dem Wissen um die menschliche Begrenztheit und das an einen sterblichen Körper gebundene Leben, das eben (noch) nicht im Himmel stattfindet. Diesem Paradox und dem Versuch, das Unsagbare zu beschreiben, verdanken sich die wunderbaren Bilder und poetischen Texte der Mystikerinnen, die häufig an Gleichnisse der Bibel erinnern, die in Bildern und Geschichten aus dem Alltagsleben helfen, das Handeln Gottes und seine Liebe verständlich zu machen. Das eigentlich Unsagbare konnte nicht unter dem Siegel der Verschwiegenheit bleiben. Denn die unio mystica ist keine religiöse Selbstbefriedigung – sie kann im Gegenteil sehr schmerzhaft erlebt werden. Sie wird häufig als Berufung auch wider Willen erfahren (Hildegard von Bingen, Gertrud die Große, Angela von Foligno). Diese Erfahrung, das als wahr Erlebte, drängt nun danach, weitergegeben zu werden: Frauenmystik hat eine zutiefst missionarische Dimension! Die erfahrene Gottesliebe war derart überwältigend, dass es unerträglich war, wenn andere nicht daran teilhaben konnten.

Um Deiner Liebe willen und zur Mehrung Deiner Verherrlichung schreibe ich diese und die nachfolgende Schrift nieder. … Ich wünsche sehr, dass einige, die diese Niederschrift lesen, durch die Tiefe Deiner Liebe im Herzen erfreut und gestärkt werden, damit sie, von Deiner Liebe angezogen, in ihrem Innersten Deine Nähe erfahren.

(Gertrud die Große)

In einer Zeit wie heute, wo alles Private in den Medien ausgebreitet wird, die Frage nach religiöser Erfahrung aber oft „peinliches Schweigen [entstehen lässt], als hätten wir unsere Großmutter nach ihren sexuellen Erfahrungen befragt“ (so berichtet Sölle), wird man staunend lesen, wie Mystikerinnen ihre Gottesliebe auch ganz sinnlich und erotisch erleben und beschreiben konnten. Die Beschreibung der Vereinigung mit Gott zum Beispiel bei Mechthild von Magdeburg und Hadewijch von Antwerpen kann die kunstvolle Form und Sprache einer erotisch-sexuellen Begegnung annehmen. Hier werden für die Beschreibung die Traditionen aus dem alttestamentlichen Hohenlied wie aus der höfischen Minnedichtung des Mittelalters aufgegriffen: Darauf tritt da eine selige Stille ein, wie es beide wollen. Er schenkt sich ihr, und sie schenkt sich ihm. (Mechthild von Magdeburg)

Wie groß waren damals die Ausdrucksmöglichkeiten, von Gottes Liebe zu den Menschen zu sprechen! Wie viel Mühe wurde darauf verwandt, Gott mit schönen Worten zu beschreiben. Und doch wurde dies alles nur als unzureichend gewertet: Alles körperliche Glück ist dem Glück des Göttlichen unvergleichbar; was ist ein kleiner Tropfen Tau angesichts des großen Ozeans? (Thérèse von Lisieux)

Entstehung und Formen der Frauenmystik

Hildegard von Bingen steht am Anfang der mittelalterlichen Frauenmystik. Die Blütezeit der folgenden hoch- und spätmittelalterlichen Mystik im 12. und 13. Jahrhundert ist eng verknüpft mit der aufbrechenden religiösen Frauenbewegung und einer neuen Spiritualität. Im 13. Jahrhundert entstanden die Bettelorden (Dominikaner, Franziskaner, Karmeliten, Augustiner-Eremiten); Armut und Besitzlosigkeit wurden zum Zeichen der neuen Spiritualität. Viele Menschen, Männer wie Frauen, bemühten sich um eine alternative Lebens- und Frömmigkeitsform, sie wollten christliche Ideale verwirklichen, die in der reich gewordenen städtischen Gesellschaft und Kirche nicht mehr ausreichend repräsentiert waren. Frauen wollten sich nicht mehr länger in theologischen Fragen und Glaubensdingen zum Schweigen verpflichten lassen. Die großen Mystikerinnen sind immer auch durch ihre teils harsche Kritik an kirchlichen und gesellschaftlichen Missständen oder kirchlichen und politischen Entscheidungsträgern bekannt geworden.

Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts entstanden vor allem in Städten religiöse Frauengruppen, die sich auf freiwilliger Grundlage zu einem religiösen Leben ohne institutionelle Absicherung und Ordensregel, aber zu einem Leben mit Armut, Keuschheit und Gehorsam sowie Askese und Gebet zusammenschlossen. Sie wurden Beginen genannt. Sie wohnten in kleinen Gruppen von drei bis 12 Personen privat oder in Beginenhöfen und kümmerten sich um Arme und Kranke. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie beispielsweise durch Handarbeiten oder auch durch Betteln. Von der Beginenbewegung gingen viele mystische Impulse aus, Mechthild von Magdeburg, Hadewijch von Antwerpen und auch Marguerite Porète gehörten dieser Bewegung an. Diese neue Lebensform bot Frauen in einem bis dahin nicht gekannten Maß die Möglichkeit, ohne Ehe und klösterliche Klausur ökonomisch, sozial und teilweise auch spirituell in freier Selbstbestimmung zu leben. Es ging hier nicht um Männerfeindlichkeit, sondern um die Verweigerung von Sexualität, ehelicher Gemeinschaft und Besitz, um frei für Gott und die Nachfolge Jesu zu sein – ein Phänomen, das sich auch bei religiös motivierten Männern beobachten ließ wie den Begarden (das männliche Pendant zu den Beginen) oder den Franziskanern. Die Beginenbewegung breitete sich von den Niederlanden über weite Teile Europas aus. Gebildete Beginen lasen selbst in der Heiligen Schrift oder theologischen Büchern und erklärten sie ihren Mitschwestern. Dieses „freie Leben“ führte häufig zu Anfeindungen durch kirchliche Amtsträger. Doch gab es auch einflussreiche Beschützer der Beginenbewegung, deren Lebensführung 1216 von Papst Honorius III. anerkannt wurde.

Die Mystik des Mittelalters hat ihren Ursprung neben der Beginenbewegung zu großen Teilen in der klösterlichen Spiritualität. Viele Mystikerinnen lebten in Klöstern. Ein Zentrum mystischer Spiritualität war das Kloster Helfta in Thüringen, wo außer Gertrud der Großen und Mechthild von Magdeburg (im Alter) auch Gertrud von Hackeborn und Mechthild von Hackeborn wirkten.

Die Kirche und die Männerorden (Franziskaner, Dominikaner, Benediktiner) reagierten auf diese geistliche Frauenbewegung sowohl innerhalb wie außerhalb der Orden zwiespältig, einerseits mit Bewunderung, andererseits mit Abwehr. Um 1250 überstieg die Zahl der Frauenkonvente die der Männerklöster. In der Mitte des 13. Jahrhunderts erhielt die Frauenbewegung endlich durch die päpstliche Klärung des kirchenjuristischen Status eine erste Anerkennung. Die Frauenkonvente wurden zu Frauenklöstern. Allerdings wurden sie männlichen Ordensangehörigen zu Seelsorge und Unterweisung – man kann es auch Kontrolle nennen – unterstellt. Genauso wurden Ordensleute auch mit der Beginenseelsorge betraut. Der bedeutendste Vertreter dieser predigenden Unterweisung von Frauen, die aufgrund fehlender Lateinkenntnisse auf seiten der Frauen in den Volkssprachen erfolgen musste, war der Dominikaner Meister Eckhart (1260–1328), selbst Mystiker und scholastischer Theologe. Es begann zwischen gelehrten Männern und Mystikerinnen ein fruchtbarer Austausch zwischen Predigt, Theologie und mystischer Erfahrung. Häufig übernahmen diese Beichtväter und Seelsorger die Aufzeichnung der Visionen und Erlebnisse der ihnen anvertrauen Frauen, die nicht alle selbst schreiben konnten. Die Erlebnisse der Mystikerinnen wurden häufig zuerst in der Volkssprache aufgezeichnet; Frauenmystik beförderte somit das Entstehen von volkssprachlicher Literatur, die mehr Menschen zugänglich war als die lateinischen Schriften der Theologen.

Gottesschau, Visionen oder Verzückungen fanden häufig im Gottesdienst, genauer: während der Kommunion, statt. Die Tatsache, dass da jemand höchstpersönlich und unvermittelt von Gott, von Maria oder Jesus eine Offenbarung empfing, machte die Mystikerinnen in den Augen der Kirchenmänner häufig verdächtig und brachte sie in die Nähe der Häresie, in einigen Fällen auch über diese Grenze. Aus der Tatsache der persönlichen Gottes-Offenbarungen erwuchs oft ein beeindruckendes Selbstbewusstsein, wie Formulierungen bei Mechthild, Birgitta von Schweden und der als Ketzerin verurteilten Marguerite Porète zeigen, bis hin zu einer Gleichsetzung der (eigenen) liebenden Seele mit Gott bei Hadewijch, oder bei Marguerite durch die Erkenntnis, dass die mit Gott in Liebe verbundene Seele weder der Kirche noch anderen Autoritäten wie der Bibel oder anderer Normen für ihr Heil bedürfe. Dies bedeutete damals Häresie und Inquisition.

Die Geschichte der Frauenmystik zeigt schon im Mittelalter den Beginn eines Individualisierungsprozesses, in dem die Einzelne Erfahrungen für sich in Anspruch nahm, die über das hinausweisen, was in den sie sozialisierenden Gemeinschaften gängig und gültig war. Caterina von Siena und Teresa von Avila, die beide in ihrer Zeit sehr einflussreiche Persönlichkeiten waren, mussten sich vor einem geistlichen Tribunal auf ihre Rechtgläubigkeit hin prüfen lassen. Widerstände gab es dagegen, dass Frauen eine Rolle einnahmen, die nicht dem traditionellen Rollenverständnis entsprach. Hildegard von Bingen beklagte sich bei Papst Eugen III., dass viele ihre Enthüllungen verwarfen, nur weil sie von einer wissenschaftlich ungebildeten Frau stammten. Birgitta von Schweden wurde von einigen schlicht für verrückt erklärt, es bedurfte dreier Kanonisationen, bis ihre Heiligkeit unangefochten war. Die Schriften Teresa von Avilas wurden zu ihren Lebzeiten nur zensiert veröffentlicht, denn sie thematisierte auch unerschrocken ihre Kritik an der untergeordneten Stellung der Frau, indem sie das das Ordensleben als Freiraum pries, der Frauen davor bewahrte, „einem Mann unterworfen zu sein, der ihnen oftmals ihr Leben ruiniert und, gebe Gott, nicht auch noch ihre Seele“. Sie bestritt in einer Zeit, als Frauen das Lesen theologischer Literatur noch untersagt war, dass die Unterordnung der Frauen eine gottgegebene Tatsache sein solle:

Du, Herr meiner Seele, dir hat vor den Frauen nicht gegraut, als du durch diese Welt zogst, im Gegenteil… O ja, mein König, einmal muss es doch den Tag geben, an dem man alle erkennt. Ich spreche nicht für mich, denn meine Erbärmlichkeit hat die Welt schon erkannt, und ich bin froh, dass sie bekannt ist, sondern weil ich die Zeiten so sehe, dass es keinen Grund gibt, mutige und starke Seelen zu übergehen, nur weil es Frauen sind.

(Teresa von Avila)

Auch andere Frauen, so zum Beispiel Caterina von Siena, zogen das Leben in einem Kloster einer Ehe vor – oder hätten es gerne gewählt, wie Katharina von Genua und Jeanne-Marie Guyon, die gegen ihren Willen verheiratet wurden. Als Ordensfrauen konnten die Frauen Bildung und Förderung erlangen (auch wenn ihnen ein Theologiestudium nicht möglich war), sie konnten unter gewissen Einschränkungen durch die Klosterregeln ein selbstbestimmtes Leben führen, sich mit anspruchsvollen geistigen und theologischen Fragen beschäftigen, eine aktiv-gestaltende Rolle einnehmen und weitreichenden Einfluss erlangen.

Waren vielleicht mystische Visionen und Schauen für die Frauen des Mittelalters die einzig mögliche Form, zu theologischen und politischen Fragen Stellung zu nehmen, da ihnen Theologiestudium, Priesteramt und Lehrstühle nicht offen standen? Ist Mystik eine Sublimation für die männliche Verweigerung der aktiven Teilnahme oder dem aktiven Gestalten des religiösen Lebens der Kirche? Durch die Mystik aber erlangten Frauen damals eine über den unmittelbaren Umkreis weit hinausgehende Wirkung sowie erhebliche öffentliche Publizität, wurden in politischen Dingen um Rat gefragt oder konnten Einfluss in Kirche und Staat ausüben – wie zum Beispiel Birgitta von Schweden, die als Hofmeisterin am schwedischen Königshof und als Papstkritikerin große Wirkung erzielte. In den ihnen gesetzten Grenzen konnten diese Frauen in bemerkenswerter Weise Handlungsspielräume erobern und ausnutzen. Weil Leben und Zeugnis in enger Wechselwirkung stehen, werden die Texte der Frauen in diesem Buch jeweils in eine Kurzbiographie eingebettet.

Mystik als Gotteserkenntnis und Gottesliebe

Mystik hat zwei Seiten: eine spekulative (Gotteserkenntnis) und eine affektive (Gottesliebe). Anders gesagt: Gotteserkenntnis führt zur Gottesliebe, und die erlebte Gottesliebe führte bei den Mystikerinnen zur Nächstenliebe, sie war etwas, das der betroffenen Person die Augen für ihre Mitmenschen öffnete. Das Liebeserlebnis mit Gott führte nicht zum Rückzug in die inneren Kammern der Seele, sondern häufig zu einem umfangreichen Wirken unter den Menschen, oft verbunden mit einer erstaunlichen Reisetätigkeit. Hildegard von Bingen wirkte als Predigerin, Seelsorgerin und Medizinerin, Katharina von Genua, der alles außer Gott eine Qual bedeutete, war als erfolgreiche und liebevolle Leiterin eines Krankenhauses tätig. Madeleine Delbrêl wurde Sozialarbeiterin in einer kommunistischen Arbeitergegend. Die Mystik, selbst die im Kloster erlebte, wurde zur Mystik mitten in der Gesellschaft. Die durch die Schau Gottes erlebte Liebe wirkte sich praktisch aus, und dieses kennzeichnet Mystik bis ins 20. Jahrhundert:

Die Liebe, die wir zu leben versuchen, indem wir uns in das Leben der anderen stürzen, lässt unser Herz unvorstellbar vielfältig, bald heiß, bald kalt, bald weich, bald steinern. Aber wenn wir unser Herz zu Gott hinwenden, gibt er uns ‚dieses Herz aus Fleisch’, das alles, was es anrührt, in Glut setzt. (Madeleine Delbrêl)

Mystik und Konfession

Hat die Mystik ihren Platz eher in der Frömmigkeit katholischer Frauen? Außer der evangelischen Theologin Dorothee Sölle, die eher einen Mittelweg des Nachdenkens über Mystik eingeschlagen hat, waren fast alle bekannten Mystikerinnen nach der Reformation katholisch oder standen der katholischen Kirche nahe. Dabei gibt es unter den Männern des Protestantismus Mystiker wie Johann Arndt und Gerhard Teerstegen und auch starke mystische Einflüsse, wie zum Beispiel bei Martin Luther oder dem prominentesten Liederdichter des evangelischen Gesangbuches, Paul Gerhardt sowie im Pietismus (u.a. durch Jeanne-Marie Guyon). Haben die Wortbezogenheit (solum verbum) des Protestantismus sowie dann spätestens die Verurteilung der Mystik durch den Theologen Albrecht Ritschl in seiner „Geschichte des Pietismus“ (1880–1886) als „irrationale Frömmigkeit“ ihre Spuren hinterlassen? Neben der Gottesschau spielen in mystischen Erlebnissen auch immer wieder die Gottesmutter Maria und andere Heilige eine Rolle, die im Protestantismus nicht in vergleichbarer Weise verehrt werden. Zudem scheint, auch wenn mystische Erlebnisse niemals durch bestimmte Techniken ausgelöst werden können, eine klösterliche Lebensweise diese Erfahrungen begünstigt zu haben. Haben gläubige Frauen im Protestantismus von Anfang an eine andere soziale Rolle eingenommen, die es ihnen ermöglichte, Glaubenserfahrungen und Gottesbegegnungen anders zu erleben? Die verschiedenen Ausprägungen der mystischen Spiritualität von Frauen durch die Konfessionen bieten Stoff für spannende Untersuchungen, genauso die Frage, warum überhaupt seit dem Mittelalter bis heute im Vergleich nur noch einzelne Mystikerinnen aufgetreten oder jedenfalls bekannt geworden sind.

Konfessionelle Fragen spielen bei der Rezeption von mystischen Texten jedenfalls keine Rolle. Die Zeugnisse in diesem Buch sind eine Einladung, frauenspezifische christliche Spiritualität kennenzulernen. Letztlich geht es bei allen Frauen darum, Gott zu finden und von seiner Liebe überwältigt zu werden:

Jede kleine Unternehmung ist ein gewaltiges Ereignis, worin uns das Paradies geschenkt wird, das wir weiterverschenken können.

Egal, was wir zu tun haben: ob wir einen Besen oder eine Füllfeder halten.

Reden oder stumm sein, etwas flicken oder einen Vortrag halten, einen Kranken pflegen oder auf einer Schreibmaschine hämmern.

All das ist nur die Rinde einer herrlichen Realität, der Begegnung der Seele mit Gott in jeder erneuten Minute, die an Gnade zunimmt, immer schöner wird für ihren Gott.

(Madeleine Delbrêl)

Mystik für heute

Die mystischen Texte in diesem Buch sind großartige Beispiele von gelebter Frömmigkeit, Spiritualität und tiefster Gottesbeziehung. Was kann die Lektüre dieser zum Teil sehr alten Texte der Leserin und dem Leser in seiner total anderen Gegenwart sagen?

Hier trifft sich die Mystik in ihrem missionarischen Impuls mit dem Evangelium: „Das Licht des Evangeliums ist keine Erleuchtung, die uns äußerlich bleibt, sondern ein Feuer, das in uns eindringen möchte, um unser Inneres zu brandschatzen und umzuschaffen… Das Evangelium eignet sich nicht für Leute, die nach neuen Ideen fahnden. Es ist da für Jünger, die ihm gehorchen wollen“ (Madeleine Delbrêl). Oder, um es mit Dorothee Sölle zu formulieren: „Jeder eigene Schritt ist mehr wert als die Erkenntnisse anderer“.

Es stellt sich also die Frage, wie man von der Lektüre mystischer Texte schließlich selbst zu einer vertieften Spiritualität, zu eigenen Schritten, kommt. Denn jede mystische Erfahrung, das zeigen die Texte in diesem Buch durch die Jahrhunderte überdeutlich, ist auch eine ganz individuelle, die sich nicht verallgemeinern oder auf andere Zeiten und Situationen übertragen lässt. Sie ist geprägt durch die jeweilige Zeit, ihre Bilder, Denkweisen und Sitten; sie ist aber auch eine ganz persönliche Erfahrung, die man sich nicht einfach aneignen kann, so faszinierend sie sein mag. Mystische Erfahrungen, Gottesbegegnungen, entziehen sich aller Verfügbarkeit, sie lassen sich nicht „machen“ oder „erzwingen“, sie werden nicht jedem und jeder zuteil. Die evangelische Theologin Dorothee Sölle (1929–2003) dachte so darüber: „Es könnte aber ja sein, dass sich in der Mystik in dramatischer Verdichtung … das darstellt, was das Wesen von Frömmigkeit und Glaube ist. Das hieße dann, dass vielleicht tatsächlich Mystik nicht der Weg von allen oder vielen ist; dass sich aber in ihr in poetischer Dichte zeigt, was das Wesen eines Glaubens ist, der für alle gedacht ist.“

Mystikerinnen können Hinweise geben, wie man Gott näher kommen kann: Gottesdienste oder Andachtszeiten, der Empfang von Sakramenten (Kommunion/Abendmahl), das Wort Gottes, die Gemeinschaft mit anderen Christinnen und Christen sowie vor allem das Gebet eröffnen Räume zur Gottesbegegnung. Dafür allerdings wäre eine Voraussetzung, dass man bereit ist, sich Zeit und Ruhe zu nehmen, die inneren Ohren und Augen zu öffnen und auch einfach zu schweigen. Dass Gott allen Menschen begegnen will, das ist gewiss. Wie, das bleibt ihm überlassen:

Aber außerhalb dieser Gewissheit/ ist alles Übrige deiner Phantasie überlassen, o Gott,/die es sich bei uns gemütlich macht.

(Madeleine Delbrêl)

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine anregende und ergreifende Lektüre und viele neue Erfahrungen.

Ulrike Voigt

Hildegard von Bingen
(um 1098–1179)

HILDEGARD WURDE UM