Holger Siemann

Das Weiszheithaus

Ein Jahrhundertroman

DÖRLEMANN

Die Arbeit an diesem Buch wurde
mit einem Stipendium der
Käthe-Dorsch-Stiftung gefördert.

eBook-Ausgabe 2017
Alle Rechte vorbehalten
© 2017 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf unter Verwendung
eines Fotos von Dimitri Bohl
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-945-4
www.doerlemann.com

Familie Weiszheit vor dem Kirchlein in Schieß, 1911
untere Reihe v. l. n. r.: Elise, Tante Lawrentija, Oma Snaige, Snaiges Schwester, Onkel Freddy; oben links Ludwig, gen. Lumo, siehe auch Stammbaum im Anhang

Prolog

Im April 91 stand ich zum ersten Mal vor dem Weiszheithaus, Ecke Kopenhagener und Sonnenburger Straße im Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Ich war 19 Jahre alt, trug 250000 DM in einer Umhängetasche bei mir und wollte es kaufen. Gründerzeit, anderthalb Vorderhäuser, ein Seitenflügel, ein Bombenschaden. In den Regenrohren röchelte Wasser. Von den Eisenträgern der Balkone rannen rostbraune Tränen über die kupfergrüne Fassade. Ein trauriges Haustier im Regen.

Von gegenüber starrten mich unter der Markise eines vietnamesischen Gemüseladens rote Augen aus Gipsgesichtern an. Die Männer rochen bis zu mir herüber nach nassem Hund und hielten sich an Bierflaschen fest.

Die Eingangstür ließ sich nur mit kräftigem Schulterdruck öffnen. Drinnen waberte feuchtgrünes Dunkel wie in einem Tropengewächshaus. Die meisten Briefkästen waren aufgebrochen, hier wohnte kaum noch jemand. Hundert Jahre alt, und dann sowas. Da könnte ich heulen.

Elise Lachner, geborene Weiszheit, meine »Anspruchsberechtigte für die Rückübertragung«, wohnte erste Etage. Mülli, mit bürgerlichem Namen Salvador Müller, ihr Urenkel, öffnete die Tür, gab aber den Weg erst frei, nachdem ich ihm seinen Anteil zugesichert hatte: 20 Prozent des Gewinns. Angeblich wollte er in ein Geschäft mit russischen Jeeps investieren, aber ich roch Merkén und Junkie-Schweiß.

Seine Uroma war 91 Jahre alt, klein, taub und fast blind. Ihre nach Maiglöckchen und Lexikonleder duftende Stube quoll über von Büchern, Skeletten, Schiffsmodellen und Landkarten, wie ein Saal im British Museum. Die Fenster des Eckzimmers gingen nach Süden und Westen, gegenüber lag eine Brache, das bedeutete freien Blick in den Sonnenuntergang.

Lage, Lage, Lage – darauf kam es an, alles andere konnte man ändern.

Elise Lachner hätte natürlich auch selbst einen Antrag auf Rückübertragung stellen können für das Haus, das die KWV1 sich 1974 gekrallt hatte, aber dessen Bearbeitung würde sich vermutlich länger hinziehen, als sie noch zu leben hatte. Ich bot ihr erstmal 120000 DM, aber bis auf ein leichtes Zittern ihrer Nasenflügel reagierte sie nicht. Ich dachte, sie hätte mich nicht verstanden, jeder gierte doch damals nach D-Mark. Aber gut, das Haus war ein Schatz. Ich schüttete das ganze Geld auf den Tisch. Eine Viertelmillion in Hunderterbündeln.

Sie beugte sich vor, schnüffelte daran und verzog angewidert das Faltengesicht. Ich ärgere mich heute noch, dass ich in dem Moment nicht geschaltet habe. Ich meine: Wie viele Leute gibt es, die Bargeld hassen, weil es stinkt? Mich. Sonst kenne ich niemanden. Die nasenstumpfe Menschheit glaubt ja »pecunia non olet«, aber Geld stinkt übel: Papiergeld nach Schmutzhänden und Hosentasche, Münzen nach saurem Oxid, am Schlimmsten ist der Scheißegeruch druckfrischer Banknoten.

Als ich Jahre später erfuhr, dass sie meine Urgroßmutter und meine Nase ihr Erbe war, lag sie bereits auf dem Friedhof.

Jetzt sollte ich wohl erstmal erklären, woher die 250000 DM stammten, damit keiner meiner Gläubiger auf falsche Gedanken kommt. Außerdem müssen Sie wissen, mit wem Sie’s zu tun haben, denn ein Mieter erzählt die Geschichte seines Hauses anders als der Eigentümer, und ein Schriftsteller wie mein Großvater schreibt anders als ich, dem die professionelle Beharrlichkeit, die Distanz zum Text, die Ungebundenheit in der Dramaturgie, die Phantasie bei der Gestaltung des Innenlebens der Figuren fehlt. Ich will mich nicht entschuldigen, Sie sollen nur wissen, woran Sie sind. Sie sind ein mündiger Leser, ich gebe mir Mühe. Das ist unser Deal.

In der Wendezeit, da war ich noch nicht mal fertig mit der Lehre als Autoschlosser, hab ich mit Gebrauchtwagen zu handeln begonnen. Noch vor der Währungsunion. In Österreich hab ich Schrottautos billig gekauft und bei einem Jugo, der eine nach Öl und Harz duftende Kfz-Werkstatt in einem Vorort von Wien betrieb und nebenbei mit Haschisch handelte, repariert. Wann immer ich wollte, griff ich in den alten Medizinschrank und kiffte. Im Glücksrausch hab ich die Karren aufgemotzt mit Spoiler, Lackbildern und Fellimitat auf den Sitzen, bin damit nach Dresden gefahren und hab sie auf dem Schwarzmarkt hinter dem Hauptbahnhof verkauft, wo die Käufer vor Gier drängelten und schrien.

Das Ostgeld rubelte ich am Grenzübergang Hirschberg-Rudolphstein eins zu zehn um, verpackte es in einem luftdichten Kühlbehälter und kaufte in Graz oder Wien wieder Altautos. Das lief so gut, dass ich ein paar Türken als Hilfsmechaniker anheuerte und mich auf den Handel konzentrierte. So bin ich rumgekommen und reich geworden.

Aber nach der Währungsunion sprangen zu viele auf den Zug, Betrüger und Knalltüten dabei, denen einer abgeht, wenn die Leute vor ihnen auf den Knien liegen und um Zahlungsaufschub betteln. Drum hab ich lieber das mit den Rückübertragungsansprüchen aufgezogen, so ab 1993, das lief ruhiger. Feines Tuch und Schlips tragen, nach teuren Aromen duften, Anträge stellen, Mädchen vom Grundbuchamt zum Kaffee einladen, und warten … warten … warten. Ich hab Wochen im Dschumm verträumt und Geld verdient im Schlaf.

Okay. Manche Investitionen musste ich abschreiben, aber die übrigen Häuser verkaufte ich nach ein paar Monaten, damals noch steuerfrei, an Immobilienfirmen und Banken aus dem Westen. Die zahlten überhöhte Preise, weil sie dachten, Berlin würde jetzt die Drehscheibe Europas. Wer sich erinnert: 1995 gab es am Alex eine Ausstellung mit 360°-Panoramabild, das ringsum Wolkenkratzer zeigte. Im dazugehörigen Café hab ich mich gern mit den Käufern getroffen.

Ich habe gut verdient, und wenn ich sage »gut«, dann meine ich sechsstellige Summen. Aber ich hab mir keinen Porsche gekauft und keine Jacht. Besitz war mir lästig, wie jede Art von Bindung. Da taucht natürlich die Frage auf, warum ich trotzdem Geschäfte gemacht hab.

Weil ich es konnte vielleicht. Weil ich meinen Siegergeruch mochte. Weil ich keine Angst vor dem Raubtierkapitalismus hatte. Weil ich cleverer war als die Immobilienhaie und meine Verwandten … aber ich merke, ich muss noch weiter in meine Familiengeschichte zurück, damit Sie verstehen, worum es mir ging.

Mit meiner Mutter wohnte ich seit ihrer Scheidung bei meinen Großeltern in einer Villa am Majakowskiring, in der Straße, in der früher mal Ulbricht und Pieck ihre Häuser hatten. Mein Urgroßvater mit dem schönen Namen Nachtigall war in der Weimarer Republik ein bekannter Professor gewesen, Lehrer an der »MASCH«, der KPD-nahen »Marxistischen Arbeiterschule«, und hatte während der Nazizeit im KZ gesessen. »Kommunistischen Uradel« nannte man das in der DDR.

Seine Tochter war meine Oma Ursula. Sie hatte eine Stimme wie Margot Honecker, war Hausfrau und trank zum Frühstück Sekt, was ihr in meinen Augen etwas sehr Verruchtes gab. Ihr Mann, also mein Opa Werner, hatte einen Spanienkämpfer unter seinen Ahnen und war ein hohes Tier bei der Stasi, zuletzt General. Sein bitterer Kettenraucher-Geruch verfolgt mich bis heute.

Meine Mutter, also Brigitte Gabbert, geborene Heinze, arbeitete als Serviceleiterin im Hotel unter den Linden, einem nach Moschus- und Sandelparfümen duftenden Devisenschuppen, in dem es ein Ablieferungssoll gab für das Westgeld, das die Gäste für die Stubenmädchen auf den Kopfkissen liegen ließen. Fleißig wie ein Bienchen sammelte sie »Goldstaub für den Sozialismus«.

Eigentlich hatten Sprösslinge aus Familien wie meiner schon bei der Geburt zehn Stufen Vorsprung auf der Karriereleiter, denn wir waren die Sieger der Geschichte. Doch ich entpuppte mich als Versager, der in Mathe Fünfen schrieb, der nicht zum Gruppenratsvorsitzenden gewählt wurde, der sitzen geblieben wäre, wenn der Opa nicht in der Schule angerufen hätte, der mädchenhaft empfindlich gegen Gerüche war.

Ach so, mein Vater, den hätte ich jetzt beinahe vergessen. Mutter hatte Jochen Gabbert mit 19 während des Studiums an der DHFK2 kennengelernt und geheiratet, aber schon ein Jahr später, gleich nach meiner Geburt, wieder verlassen. Vielleicht war er nur ein notwendiges Übel und die Schwangerschaft das Mittel, der ungewollten Sportlerinnenlaufbahn zu entfliehen. Mit 20 begann sie nochmal zu studieren, diesmal Außenhandel in Berlin. Die Stelle meines Vaters nahm Oma Ursula ein.

Nachdem meine Mutter wieder geheiratet hatte – den Direktor des neugebauten Palasthotels –, klaute ich mit 15 das Moped vom Sohn des Maschinenbauministers, der im Nachbarhaus wohnte. Ich kam in den Jugendwerkhof Torgau. Kein Anruf diesmal, keine Rettung. Sie wollten mir eine Lehre erteilen.

Ich hab also Autoschlosser gelernt oder zumindest damit angefangen, denn gleich im Sommer 89 bin ich über Ungarn abgehauen. Vom Aufnahmelager aus habe ich zu Hause angerufen. Mutter sagte, ich sei eine »Enttäuschung auf der ganzen Linie« und legte auf. Immerhin ließ sie mich nicht von der Polizei suchen, obwohl ich erst 17 war.

Ich bin vom Lager direkt nach Wien, weil ich wusste, dass mein Vater in den Achtzigern eine Österreicherin geheiratet hatte. Im Telefonbuch stand ein Jochen Gabbert, Zinnergasse, zwischen Kläranlage und Alberner Hafen. Mir öffnete eine junge und übergewichtige, blondierte Frau mit einem Baby auf dem Arm, die mit südeuropäischem Akzent sagte, Vater liege im Krankenhaus. Sie nannte auch gleich die Adresse, als wolle sie mich loswerden. Ich stellte mich als ihr Halbbruder aus dem Osten vor, aber sie nickte, wie man einem Spendensammler von »Brot für die Welt« zunickt, und schloss die Tür vor meiner Nase.

Das Krankenhaus entpuppte sich als Entzugsklinik. In meinen Träumen war mein Vater der sportliche Volleyballspieler gewesen, als den meine Mutter ihn beschrieben hatte, nun saß ich einem gelbhäutigen Wrack gegenüber, das nach Pisse und Zigarette stank und faselte, Nikola, also die Frau in seiner Wohnung, sei die Tochter einer montenegrinischen Prinzessin und sein Titel laute jetzt Königliche Hoheit. Ich weiß nicht, warum so viele Ex-DDR-Sportler saufen. Vielleicht hat es was mit Doping zu tun.

Später, nach den Balkankriegen, hörte ich Nachrichten über eine Rückkehr des montenegrinischen Königshauses aus Österreich nach Cetinje, in die alte Hauptstadt, und ich stellte mir meine Halbschwester auf einem roten Teppich vor. Die Montenegriner entschieden sich dann aber doch gegen die Monarchie und für die Republik.

In Ostdeutschland blies meinen Altvorderen nach der Wende der Wind heftig ins Gesicht. Opa Werner erschoss sich Heiligabend 1989 mit der Dienstpistole. Oma trank zum Frühstück eine Flasche Rotkäppchen und zum Mittag eine zweite. Onkel Herbert stürzte bei seinem ersten Alpenurlaub in eine Schlucht. Das Hotel meiner Mutter wurde abgerissen und sie entlassen.

Und dann tauchte auch noch der Sohn des Alteigentümers unserer Villa in Pankow auf, ein Musiklehrer aus Vechta, 68er, cooler Typ mit langen grauen Haaren. Sein Vater, ein Komponist, war von den DDR-Kommunisten 1950 enteignet worden und aus Angst vor weiteren Schikanen in den Westen abgehauen.

Oma hatte das immer andersrum geschildert: Sie und Opa hätten die im Stich gelassene Villa vor dem Verfall gerettet.

Eine Million legte ich auf den Tisch. Das war trotz des riesigen Grundstücks zu viel für den alten Kasten, aber der Anblick der Gesichter, als ich Oma und Mutter die Schenkungsurkunde reichte, war es wert.

Irgendwann war die Immobilienschinderei dann aber auch vorbei. Solange du’s mit Schlitzohren zu tun hast, die einander übers Ohr zu hauen versuchen, ist es unterhaltsam, aber mit Aktenkofferträgern aus Großkanzleien, die ernsthaft an ihr Gottbegnadetentum glauben, zu reden war einfach übel.

Ende der Neunziger begann der Internet-Boom. Mit Ecki, einem Informatiker, gründete ich eine Firma, um Software für Handelsplattformen zu stricken. Wir stiegen gleich richtig groß ein: 200 Mitarbeiter, Büros in Berlin, Jena, Köln und München. »Webshop« hießen wir. Ich hatte schon immer gern am Computer gespielt und war überzeugt, dass wir die Zukunft gestalten würden.

In Deutschland gab es zu wenig Fachleute, also suchten wir im Ausland. Wir waren mit die Ersten, die Programmierer in Indien beschäftigten. Ich übernahm deren Betreuung vor Ort. Indien hatte ich schon immer cool gefunden, Ravi Shankar, Tantrasex und so.

Anfangs reiste ich viel durchs Land, mit einem Jeep über staubige, lebensgefährliche Straßen, dann rüstete ich alle Unterchefs mit Mobiltelefonen aus und genoss das Leben in Shimla, einer ehemaligen Sommerfrische der Engländer in den Bergen. Meine Freundin Nandini war Ärztin und die Tochter eines Medizinprofessors, sehr hübsch, sehr gebildet, sehr engagiert und von meinem Reichtum kein bisschen beeindruckt. Geld war für sie nur Mittel zum Zweck, sie wollte Politik und Meinung machen. Ich kaufte für sie eine von duftenden Marihuana-Tälern umgebene Teeplantage, wo sie ihre Leprakranken resozialisieren und ihre Studien treiben konnte.

Leute mit Abitur hatten für mich immer schon einen Heiligenschein, und »Professor« war in meinen Augen das Höchste, was ein Mensch werden konnte. Weil ich glaubte, mithalten zu müssen, fälschte ich ein HSC3 und schrieb mich an der »Himachal Pradesh University« für Kurse in Epistemologie, Psychologie, Philosophie, Geschichte, Statistik und Philologie ein. Ich hing an den Lippen meiner knoblauchduftenden Dozenten und verschlang die empfohlenen Bücher. Warum und wie die Menschen Herrschaft ausübten, welche Rolle Institutionen (und Gewalt) spielten, wie das Recht funktionierte, warum die Menschen Kriege führten, wie alles historisch aufeinander aufbaute, das interessierte und faszinierte mich. Die Macht, die mir als Kind und Jugendlichem undurchschaubar, überlebensgroß entgegengetreten, ja, von der ich unentrinnbar umgeben gewesen war, entpuppte sich als ein Geflecht divergierender Interessen, wurde durchsichtig wie ein Spinnennetz und zerreißbar. Zumindest prinzipiell. Allein das Wissen darum machte mich frei.

In den Vorlesungspausen hielt ich Telefonkonferenzen mit meinen Vertretern, denn die Firma wuchs. Ecki drängte darauf, an die Börse zu gehen. Ich wollte erst nicht, aber die Anleger fraßen uns aus der Hand, bewarfen uns mit Geld, wir wussten nicht, wohin damit. Also flog ich nach Frankfurt, mietete eine Hotelsuite in der Nähe der Börse und kaufte Beteiligungen an allem, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Auf dem Scheitelpunkt der Kurse im Februar 2000 betrug der Buchwert unserer Aktien mehr als 160 Millionen D-Mark, aber kurz darauf brach der Neue Markt zusammen. Im Jahr darauf konnten wir die Insolvenz nicht weiter hinauszögern.

Ecki und ich lachten darüber, aber die Anleger wollten uns lynchen. Ich floh nach Indien, wo gerade der Monsun den Boden der Leprakommune durchweichte und die frisch bepflanzten Teeterrassen die Hänge runterrutschten. Nandini war wütend, weil niemand kaufen wollte, was Leprahände angefasst hatten – obwohl Lepra kaum ansteckend ist –, vor allem aber, weil sie herausgefunden hatte, dass ich meine Diplomarbeit an der HPU mit Hilfe eines Ghostwriters geschrieben hatte. Sie trennte sich von mir und ihre ganze Schlaunasenfamilie behandelte mich wie einen Hochstapler. Das tat weh.

Ich zog zu den Leprakranken und schickte erstmal alle Patienten, die laufen konnten, zum Sammeln in die umliegenden Himalaya-Täler, in denen ein betörender Duft von Marihuana lag. Die anderen teilte ich ein zum Trocknen, Sortieren, Klopfen und Backen der Harzriegel. Die Wirkung war phänomenal: Die Leprösen vergaßen schon beim Einatmen des Staubes Hunger und Schmerzen. Was wir nicht selbst konsumierten, verkauften wir an Backpacker im Parvati-Tal und in den Touristenhochburgen von Agra und Amritsar. Das Geschäft florierte, die Kommune wuchs und niemand störte uns. Bis 2003.

Eine Woche nach der Wahlniederlage der Bharatiya Janata Party (mit deren Chief-Minister ich einen Deal hatte) wurde ich in Chandigarh von einer Spezialeinheit verhaftet, so richtig mit Straßensperre, Hubschrauber und Maschinengewehren. Die Zelle, in der ich zwei Wochen wartete, stank nach Rattenpisse. Der Richter veranschlagte einen Monat Haft pro Gramm. Da ich 12 Kilo Dope bei mir gehabt hatte, überschrieb ich dem Provinzgouverneur die Plantage und ließ mich nach Deutschland ausweisen, mit nichts als meinem Pass und durchgeschwitzten Klamotten am Leib.

Jana, eine Malerin, der ich in besseren Zeiten ein paar Ölbilder für die »Webshop«-Büros abgekauft hatte, nahm mich auf ihrem Hof in der Uckermark auf, wo ich Schweine und Schafe versorgte. Ich lernte reiten, um die Pferde bewegen zu können, und fand mich in einem Leben wieder, das wie ein Gemälde stillstand.

Mit einem Hengst, der allein stand, weil er Streit in der Herde auslöste, freundete ich mich an. Darius war ein ehemaliges Dressurpferd. Wenn wir über die Wiesen zum drei Kilometer entfernten See trabten, interpretierte er meine wirren Bewegungen als Kommandos, hüpfte transversal über die Straße, setzte die Füße über Kreuz oder drehte sich wie eine Ballerina. Fand ich keine Zeit, mit ihm auszureiten, stellte ich mich wenigstens ein paar Minuten neben ihn in den Stall und steckte meine Nase in sein Ohr. Es dauerte dann meist nicht lange und er gähnte, seine Augen wurden klein und der Kopf sank immer tiefer. Ich war seine Herde. Und er meine.

Nach Berlin wagte ich mich angesichts des Furors unserer Anleger nicht. Dass meine Familie mir aus der Klemme half, war natürlich ausgeschlossen. Oma und Mutter hatten die Villa versilbert und brachten das Geld mit Kreuzfahrten, Suff und mit Glücksspielen in den Casinos von Baden-Baden durch. Trotzdem spuckten sie Gift und Galle über die BRD, die Treuhand und den Kapitalismus, als dessen Vertreter sie mich sahen. Ich vermied, ihnen zu begegnen.

In Absentia wurde ich zu Schadenersatz in Millionenhöhe verurteilt und ging, pleite bis auf den letzten Groschen, notgedrungen in Privatinsolvenz. Trotzdem versuchte ich, etwas für meine Leprafreunde in Himachal Pradesh zu tun, die umgesiedelt werden und einem Mountain-Resort Platz machen sollten.

Es war die Zeit des Web 2.0 und der Diskussion über die Liberalisierung weicher Drogen in Deutschland. Mein Internet-Blog, in dem ich Fotos aus dem duftenden Tal, Statements zum Haschischkonsum und sozialkritische Texte zur Aussätzigkeit publizierte, wurde sehr erfolgreich. Spiegel und Wochenschau griffen das Thema auf, der Entwicklungshilfeverein Pro Life e.V. startete eine Kampagne. Die Aufmerksamkeit zog Spenden an, das Ganze verselbständigte sich. Leider hörten die Verantwortlichen nicht auf meine Warnungen, nach Indien durfte ich nicht und so musste ich zusehen, wie drei Millionen Dollar, die für ein Leprakrankenhaus bestimmt waren, in den Taschen von bestechlichen Polizisten verschwanden. Die Sendung »Horizonte« deckte auf, dass mit Entwicklungshilfe Drogen für Deutschland produziert worden waren, dem Entwicklungshilfeverein wurde die Gemeinnützigkeit entzogen und ich hatte wieder ein paar Feinde mehr.

Ich wäre gern auf dem Hof der Malerin geblieben. Das Leben auf dem Land gefiel mir. Wir schliefen ein paarmal miteinander, aber Jana roch nach Schafswolle und warf mir meine Beziehungen zu anderen Frauen vor. So zog ich weiter. Im Herbst half ich in der Mosterei einer Kommune aus, deren Mitglieder viel über ihre Beziehungen und das Männer-Frauen-Ding diskutierten. Mein Schweigen wurde akzeptiert, weil ich behauptet hatte, schwul zu sein. Auf den Grundstücken der Wochenendler im nahen Dorf schnitt und fällte ich Bäume. Meine Hände wurden schwielig, meine Schultern muskulös und meine Haut sonnenbraun. Dann brach der Winter ein. Schnee wehte in meinen Bauwagen und das Wasser gefror nachts in den Tassen.

Mit dem Geld, das ich in der Kommune verdient hatte, flog ich nach Thailand, wo ich in einem Backpacker-Resort Palmstrohhütten deckte, Möbel reparierte und »fried rice with chicken« kochte. Abends saß ich am Lagerfeuer und lauschte Erzählungen aus fremden, meist aber doch sehr vertrauten Leben und Ländern. Meine Affären waren aufregend und romantisch – und sie endeten nach einer, zwei oder höchstens drei Wochen ohne Tränen, wenn die Frauen ihre Rucksäcke packten und weiterzogen. Ich blieb fast ein Jahr, bis im Dezember der Tsunami das Resort zerstörte.

Eine Australierin namens Annie, die ich im Notaufnahmelager kennenlernte, lud mich auf die Sheep Station ihrer Eltern ein, die immer Helfer suchten und den Flug bezahlten. In Avon-Valley, Westaustralien, lernte ich Traktor fahren, Schafe scheren und schlachten und baute mit den Nachbarn Ställe und Scheunen, bis sich herumsprach, dass ich mit Computern umgehen konnte. Ich wurde von Hof zu Hof weitergereicht, installierte Netzanschlüsse und programmierte Webseiten oder Internetshops.

Annie war ein schüchternes, etwas pummeliges Mädchen und unsere Beziehung von der leisen Art. Sie kam am Sonntagmorgen, wenn ihre Eltern zum Gottesdienst nach Perth geflogen waren, in mein Bett. Ich nahm es hin, denn sie war unkompliziert, neugierig und der Sex mit ihr tabulos. Sie roch nach frischem Hering. Unter der Woche redeten wir wenig miteinander, und dass ihre Mutter eingeweiht war, erfuhr ich erst, als sie über Familienplanung sprach und über Investitionen, die sich bei »euch« amortisieren würden. Ich legte die Karten auf den Tisch und bat um Geld für die Weiterreise. Annie weinte ein paar Stunden, dann beruhigte sie sich und strickte einen Schal, den sie mir zum Abschied schenkte. Ihr Vater brachte mich zum Flugplatz und umarmte mich lange. Ich hatte den Eindruck, dass er mich gern begleitet hätte.

In den folgenden Jahren verbrachte ich jeweils einige Monate in Südafrika und Mexiko, auf Kuba und in New York, arbeitete als Gärtner, Lastenschlepper und Schiffsmaschinist, lernte Schweißen und Mauern, Putzen und Betten beziehen, Methamphetamin kochen und Ausweise fälschen. Meist blieb ich, wo ich eine Frau kennen lernte, und zog weiter, wenn die Beziehung zu eng wurde.

Währenddessen schwand meine Pankower Verwandtschaft. Oma Ursula schrieb, dass sie mit 81 Jahren wieder geheiratet habe und zu ihrem Mann auf die Krim gezogen sei. Das beigefügte Hochzeitsfoto zeigte sie in den Armen eines jugendlich wirkenden Kraushaars mit recht umfangreicher Kraushaarverwandtschaft vor einem Bungalow in den Bergen, mit Blick aufs Meer.

Meine Mutter erkrankte an Krebs und zog in ein Pflegeheim in der Nähe von Hannover. Ich zögerte meinen Besuch hinaus, bis es zu spät war. 2005 erstickte sie, weil das Atemgerät, von dem sie abhängig war, während des Orkans Tobi ausfiel. Auf der Beerdigung war ich allein mit dem Sarg. Er roch nach Bootslack, Opa Werner und etwas, das ich nicht kannte.

Hin und wieder las ich Sterbeanzeigen von Verwandten, die mir einst auf tabakvernebelten Geburtstagsfeiern und spätsommerlichen Grillpartys auf die Schultern geklopft oder in die »viel zu langen« Haare gegriffen hatten. Es klingt sicher herzlos, aber für mich war damals jede Nachricht von einem Todesfall in dieser Familie eine Befreiung.

2011 erreichte mich der Brief eines Notars: Oma Ursula war gestorben und hatte mich testamentarisch beauftragt, ihre Asche im Bürgerpark zu verstreuen. Ausgerechnet mich! Ich zögerte. Ursula war schon als Lebende giftig gewesen und im Park spielten Kinder, also ließ ich ihre Urne auf dem städtischen Friedhof III versenken, immerhin ganz in der Nähe ihres Wunschortes.

Als ich Dr. Bracher, dem Notar, Vollzug meldete, las er mir eine Erklärung von Oma Ursula vor, die mit den folgenden Worten begann:

»Ich lernte Kurt Lachner, der sich später Kurt Weiszheit nannte und ein mäßiger Schriftsteller wurde, im Winter 1946 beim Bäumefällen im Bürgerpark kennen. Unsere Beziehung fing mit einem Missverständnis an. Er tat so, als seien wir fürs Teekochen eingeteilt. In einem unbeobachteten Moment rannten wir davon. Schließlich verführte er mich in meinem nahe gelegenen Zimmer. Ich hielt ihn für draufgängerisch und mutig, aber er war nur dekadent.«4

Den Namen »Weiszheit« kannte ich, aber wohin sollte das führen? Dr. Bracher reichte mir, als er meine wachsende Ungeduld spürte, ein Buch über den Tisch. Es hieß Klaus und Karola und zeigte auf einem verblassten blauen Einband die Umrisse zweier Jugendlicher im FDJ-Hemd. Verfasser: Kurt Weiszheit. Der Notar las weiter vor:

»Kurt hat zahlreiche Details unserer Beziehung benutzt, ohne damit das Wesentliche zu treffen, aber das war nicht der Grund, warum wir uns 1952 trennten. Ich bin sicher, dass Du die Lügen in seinen Werken durchschauen wirst, also spare ich mir Enthüllungen.

Ich würde das Geheimnis seiner Vater- beziehungsweise Großvaterschaft mit ins Grab genommen und Dich unbehelligt gelassen haben, wenn er mir nicht bei seinem Tod das sog. ›Weiszheithaus‹ in der Kopenhagener Straße vererbt hätte.«

Wie aufgezogen lief ich vom Büro des Notars durch den Prenzlauer Berg zur Kopenhagener Straße. Die Nummer 16a5 war das einzige unsanierte Haus in der ansonsten schon ganz pastellfarbenen Straßenfront, und es sah noch genauso aus wie in meiner Erinnerung. Ich erkannte die Spuren rostiger Tränen auf der kupfergrünen Haut, roch den Moderduft und legte die Hände auf seine warmen Ziegel. Sein Atem pfiff wie bei einem müden, alten Tier.

Die Passanten machten einen Bogen, vermutlich hielten sie mich für besoffen. Das Haus und ich, wir atmeten eine Weile gemeinsam, dann küsste ich es auf die wunde Haut und versprach, es zu retten.

Einer der Schlüssel, die der Notar mir überreicht hatte, passte zu einer Tür im Dachgeschoss. Dahinter herrschte Halbdunkel. Die Luft roch nach Zimt und Nelken, nach Bücherstaub und heißem Teer. Hier hatte der Schriftsteller, mein Großvater, gewohnt. Die hölzernen Bodendielen knarrten unter dem Gewicht meiner Schritte. Bevor ich spätere Eindrücke hineinmische, zitiere ich einfach, was ich damals in mein Mobiltelefon diktierte: »Dach hoch wie ein Kirchenschiff. Keine Fenster, oben schachbrettgroße Dachluken. Risse in zerbrochenen Dachziegeln, man sieht Himmel, viel Himmel. Eimer und Emailleschüsseln voller Wasser. Die Wände mit Büchern und Rotweinflaschen dekoriert, eisernes Öfchen, Spüle in einem Holzgestell, darunter ein Eimer, puh … Matratze auf dem Fußboden. Eine Tür in der Giebelwand … befinde mich im Freien. Verkohlte Dachbalken, großflächiger Brandschaden, zerfetzte Bauplanen. Badewanne mit verwelkten Sonnenblumen.«

Ich holte einen Eimer und goss die Pflanzen. In der Ziegelmauer zum Seitenflügel fiel mir eine Tür ohne Klinke auf, die ich mit einem zum Dietrich umgebogenen Schraubenzieher öffnete. Dahinter verbarg sich der merkwürdigste Raum, den ich je betreten hatte. »Geruch nach Lackfarbe, Wacholder und Heu, Stockpilz und Hausaufgabenheft. Fäden kreuz und quer wie ein Spinnennetz, ich muss aufpassen … Regale mit Schachteln, Zetteln, Büchern, Fotos, alles nach Farben sortiert, links rot, Mitte grün, rechts blau, hinten zur Brandwand gelb. Ein Labyrinth in Regenbogenfarben … wo komm ich denn jetzt wieder raus?«

Vorsichtig zupfte ich mal hier an einem Buchdeckel, linste mal dort in ein Album. Hier hatte jemand über Jahrzehnte die schriftliche Hinterlassenschaft eines ganzen Hauses gesammelt. Ich diktierte: »Bücherrücken zum Teil lackiert. Kartons mit Zeitungen, Bücher, Postkarten, Bündel mit Briefen, Reklameblätter, Adresslisten, Zeugnishefte, Mietquittungen …«

Schließlich musste ich mal, krabbelte zurück in die bekannte Welt und pisste in die Regenrinne.

Die ganze Sache hatte leider einen Haken: Ich konnte das Haus nicht erben. Gerichtsvollzieher und Privatdetektive beobachteten mich in der Hoffnung auf Vermögen, das sie pfänden konnten. Zum ersten Mal tat es mir leid, mich nicht engagierter gegen die Gläubiger der Webshop AG gewehrt zu haben, aber nun waren die Fristen verstrichen.

Dr. Bracher erklärte mir, dass, wenn ich das Erbe ausschlüge, der nächste Verwandte in der Erbreihe einträte, nämlich Salvador Müller, der Neffe von Kurt Weiszheit. Salvador! Sofort hatte ich seinen Geruch wieder in der Nase.

Er konnte damals, auf dem Dampfer der Weißen Flotte, kaum volljährig gewesen sein, doch seine schwarzen Locken klebten schon greisenhaft am Schädel, seine Augen waren rot geädert und seine Haut glänzte von Schweiß. Er behauptete, unfreiwillig ein Gespräch mitgehört zu haben und mir, wohl weil er mich für einen Immobilienspekulanten hielt, das Geschäft meines Lebens vorschlagen zu müssen. Seine Geschichte vom Haus einer Urgroßmutter in Ostberlin und ihrer Enteignung in den siebziger Jahren klang wie tausend ähnliche Geschichten, und auch wenn ich ihm nicht alles glaubte: Das war genau mein Geschäftsmodell. Ich handelte mit Unrecht und Hoffnungen, also fuhr ich nach seinen Anweisungen in die Kopenhagener Straße, wo – wie schon erzählt – meine Verhandlungen mit Elise scheiterten. Danach verfolgte Salvador mich bis in die U-Bahn. Er ließ sich nicht abschütteln, bettelte um eine Entschädigung, einen Kredit, irgendwas, und zitterte dabei immer mehr. Als er sich in einer Kurve festhielt, rutschte sein Hemdsärmel hoch und ich sah die Einstiche in seiner Armbeuge. Am Alex, wo in den Fußgängertunneln der S-Bahn die Drogenhändler Hof hielten, blieb er zurück.

Ich zweifelte, dass er nun, 20 Jahre später, noch lebte, aber ihn zu finden war leicht. Er stand im Telefonbuch: Salvador K. Müller, Versicherungen, Ostseestraße. Das lag im Prenzlauer Berg, gar nicht weit weg vom Weiszheithaus.

Mir öffnete ein übergewichtiger, glatzköpfiger Mann, aber ich erkannte seinen Geruch nach Merkén und den merkwürdigen Ohrring – einen Würfel aus Koralle in einem silbernen Käfig. Er war nicht sauer wegen der Vergangenheit, im Gegenteil. Meine Weigerung, ihm Geld zu leihen, habe ihm vielleicht das Leben gerettet. 1994, so ging sein Geständnis weiter, sei er nach einem tiefen Absturz und dem Tod seiner Freundin Vanessa in einem Substitutionsprogramm gelandet und noch immer auf Methadon.

Ich erzählte ihm von unserer Verwandtschaft und der Erbschaft; er meinte, er habe schon seinerzeit gedacht, dass ich seinem Onkel Kurt ähnlich sähe.

Wichtig war für mich: Er hatte ein regelmäßiges Einkommen, keine Schulden und die Vorstrafen waren aus den Registern gelöscht. Interessiert hörte er sich an, was ich vorzuschlagen hatte. Er sollte das Haus als mein Strohmann übernehmen und vier Jahre später, wenn ich nach der Restschuldbefreiung wieder geschäftsfähig sein würde, zu einem vorher festgelegten Preis an mich verkaufen. Irgendwie, dachte ich, würde ich schon wieder auf die Beine kommen und das nötige Geld verdienen.

Er zündete umständlich eine schokowolkig riechende Zigarre an, folgte mir auf den Balkon und brüllte, während in der Straßenschlucht unter uns der Feierabendverkehr hupte, seine Forderungen: 50 Prozent der Mieteinnahmen nach Abzug der Kosten, mindestens aber 36000 Euro im Jahr, eine große Wohnung im Haus und ein Geschäftslokal mit Publikumsverkehr. Das war unverschämt, aber ich willigte ein. Ich wollte das Weiszheithaus, ich wollte diese Familie, ich wollte Vorfahren, die so waren, wie ich sie mir immer gewünscht hatte.

Wir berieten die ganze Nacht, verhandelten hart und stießen im Morgengrauen mit einer Flasche Rotkäppchen von der Tanke an. Wir würden das Haus sanieren, den zerbombten Vorderhausteil wieder auf- und das Dachgeschoss ausbauen, so lautete der Plan. Im doppeletagigen Keller, wo zu DDR-Zeiten schon einmal ein Club gewesen war, bot sich Gastronomie an. Das seit der Wende stark gestiegene Mietniveau würde uns die Finanzierung erleichtern. Der Vertrag umfasste schließlich 52 Seiten und war alles andere als anfechtungsfest, aber ich setzte darauf, dass Salvador mich auch in Zukunft brauchen würde. Dr. Bracher, der Notar, beurkundete unsere windige Vereinbarung in einem sehr beeindruckenden Zeremoniell.

Ich zog in Kurt Weiszheits Dachhalle, mit nichts als einer Luftmatratze, einem Notebook und meinem Mobiltelefon. Die Bewohner beäugten mich, den »Generalbeauftragten« des neuen Eigentümers, und begannen nach Angst zu riechen. Ich wollte ihnen nichts Böses, aber es gab keinen Weg, die Klischees zu umgehen. Es hagelte Widersprüche gegen die Sanierungsankündigung. Mit jedem einzelnen Mieter musste ich den Zeitplan, den Umfang der Arbeiten und die nach der Sanierung zu erwartende Miete verhandeln.

Sechs der sieben Familien, deren Wohnungen ich in den Neubau hinein vergrößern wollte, willigten gegen Zahlung einer Entschädigung in die Aufhebung des Mietvertrags ein und packten die Koffer. Nur in der 2. Etage biss ich auf Granit. Frau Goldberg, Amerikanerin, hager und grauhaarig, Mitglied des »Ensembles Aoide« und Professorin an der UdK, war weder mit Geld noch mit guten Worten zum Auszug zu bewegen. In ihrer Wohnung roch es wie im Inneren einer katholischen Kirche, irgendwie nach Reue und Seife. Im Salon stand ein riesiger Bechstein und sie erklärte, der Flügel sei beim Bau des Hauses eingemauert worden und habe entfernten Verwandten gehört, die hier in der Wohnung gelebt und von den Nazis umgebracht worden seien. Mit Kurt Weiszheit habe sie seinerzeit die Nutzung vereinbart und sich im Gegenzug zur Pflege und regelmäßigen Stimmung des Instruments verpflichtet. Ich kapitulierte vor dieser Geschichte.

Die Finanzierungsverhandlungen mit den Banken gestalteten sich unerwartet schwierig, weil Salvador auf irgendeiner schwarzen Liste stand und natürlich auch, weil noch nicht genug Gras über meine Verurteilung gewachsen war. Wenn ich überhaupt einmal zu einem Gespräch eingeladen wurde, dann nur, weil ein Mitarbeiter seinem jüngeren Kollegen zeigen wollte, wie tief ein Big Player fallen konnte. Ein Herr Mankel erzählte mir im Fahrstuhl der Landesbank, seine Mutter habe sich mit »Workshop«-Aktien ruiniert. Der zuständige Abteilungsleiter der Charlottenburger Bank holte einen vollstreckbaren Titel gegen mich aus dem Safe. Nur der schüchterne Praktikant der Sparkasse bat mich um ein Autogramm.

Die Wartezeiten während der Finanzierungs- und Ausschreibungsphase nutzte ich, um durch den merkwürdigen Raum im Dachgeschoss zu stöbern. Wie in einem altmodischen Papierladen waren die Bücher und Hefte in den Regalen nach Farben und Dicken beziehungsweise Größen sortiert. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass der Archivar sehr wohl inhaltliche Kriterien zugrunde gelegt, aber die Buchrücken und Artefakte, die farblich nicht in sein System passten, mit Lackfarbe überpinselt hatte.

Was mir rätselhaft blieb, waren die Spinnenfäden, Strippen, Seile, die kreuz und quer gespannt waren. Anfangs dachte ich, sie bedeuteten Abstammungslinien, rot beispielsweise die Familie von Kurt Weiszheit, Elise und ihren Vorfahren, aber dann führten die Fäden auch wieder zu Briefen und Fotos von gänzlich Fremden. Manche der Querverbindungen waren am Regalboden mit Reißzwecken angepinnt, andere in Aktenordnern festgeklemmt, manche führten gerade nach gegenüber, andere um die Ecke, wieder andere waren um ihr Ziel geschlungen und liefen danach weiter zu einem dritten, vierten, fünften Ordner oder einem Briefbündel. Ganze Regalmeter enthielten Drehbücher, Manuskripte, Zettelsammlungen und Bücher von Kurt Weiszheit. Verblüfft las ich in Klaus und Karola, meine knöcherne Großmutter sei ein heißer Feger gewesen. Sogar Sexszenen gab es zwischen den Aufbauhelfern der FDJ. Wow! Möglicherweise las ich von der Zeugung meiner Mutter!

Mein Opa war Nationalpreisträger der DDR und Literaturfunktionär gewesen. Diese Sorte Staatsschriftsteller hatte mich nie interessiert, aber nun verschlang ich seine Romane aus Neugier auf meine »wahre« Familie, die alles hatte, was meiner Pankower Mischpoke fehlte: internationales Flair, Geschichte, Zauber und Geheimnisse. Die Weiszheits kamen aus dem für mich damals völlig exotischen Baltikum, es gab unter ihnen Litauer, Preußen, Russen und Juden, sie waren Musiker, Waldbesitzer, Schriftsteller und Politiker gewesen. Im Erzählband Kurisches Flüstern las ich von Feen, Elfen, Frauen mit Wundernasen und von Kabalen zwischen eifersüchtigen Brüdern. Ein mit Bleistift geschriebener und von Radierspuren verschmierter Stammbaum listete Geburtsorte in Chile, Russland, Bolivien, Frankreich, Israel, Brasilien und Amerika auf. Dank Kurt Weiszheits Beschreibungen erstanden Tote auf, als wäre ich dabei gewesen.

In dem Wälzer Gustav, der Sucher ging es um meinen – ich musste kurz rechnen – Ururgroßvater, um den Weiszheit, der Ende des 19. Jahrhunderts in die Reichshauptstadt gekommen war und ein Haus hatte bauen lassen – das Haus, in dem ich saß und las. Ich fand ein maschinengeschriebenes Manuskript mit handschriftlichen Korrekturen, das die Lebensgeschichte von Gustavs Tochter Elise erzählte, also meiner Uroma, der kleinen, blinden Frau, die mit ihren 91 Jahren so intensiv nach Maiglöckchen geduftet und mein Geld nicht hatte haben wollen.

Ehe ich michs versah, war ich in einem historischen Paralleluniversum zu Hause. Ich konnte nicht aufhören, zu lesen und mich im Betrachten von Fotos zu verlieren. Wie ähnlich ich den Weiszheits war! Ich konnte riechen wie Urte, ich hatte Elises sonnenempfindliche Haut, ich war umtriebig wie Gustav, ich wollte das Gute wie Ernst und landete doch irgendwie immer in der Scheiße wie Kurt. Wäre meine Pankower Nomenklaturafamilie, bei der ich aufgewachsen war, zu diesem Zeitpunkt noch am Leben gewesen, ich hätte sie erwürgt – weil sie mir meine wahre Familie vorenthalten hatten!

Zufällig traf ich während einer Immobilienmesse im Flughafen Tempelhof einen alten Bekannten aus der Chefetage der bayerischen Hypothekenbank, der erzählte, er wolle den neuen Berliner Immobilienboom nicht verpassen. »Den richtigen Riecher haben«, nannte er das. Ich hatte ein Déjà-vu, denn schon Anfang der 90er hatte seine Bank sich an einem zu großen Stück Berlinkuchen verschluckt, aber Kapital lernt nicht, da muss man sich als Spekulant keine Sorgen machen. Ich flog nach München, packte die Karten »ehrlich« auf den Tisch und rechnete meine Zahlen vor. Den Bankern dampfte die Gier aus den Achselhöhlen und verleitete sie, uns gegen einen satten Risikoaufschlag von anderthalb Prozent 2,5 Millionen auf Hypotheken zu leihen. Wir konnten anfangen.

Zunächst musste im Dach Baufreiheit geschaffen werden. Weil ich fürchtete, die merkwürdige Ordnung des Archivs niemals rekonstruieren zu können, wenn wir es einmal in Kisten gepackt hatten, bat ich einen Bekannten am Lehrstuhl Bibliothekswissenschaften der HU um Hilfe. Im Rahmen einer Abschlussarbeit »neue Wege in der Digitalisierung« fotografierten, scannten und speicherten zwei Dutzend Studenten das gesamte Archiv, sämtliche Papiere, Fotos und Gemälde auf Festplatte. Während kräftige Umzugshelfer aus dem Wedding die Kartons in einen Bürocontainer trugen, den wir am Ende der Sackgasse aufgestellt hatten, versahen meine Jungarchivare die Fotos mit Tags, bearbeiteten die Texte mit Texterkennungssoftware und wandelten die Dateien so um, dass sie nach Stichworten und Jahreszahlen durchsuchbar wurden. Nach und nach wurde die Fülle überschaubar, das Beziehungsgewirr luzide. Den Container voller Artefakte lagerten wir am Westhafen ein, für die digitale Kopie schaffte ich einen schnellen Computer an.

Ich dankte den Studenten und Helfern mit einer Einladung ins Due forni, wo die Luft selbst schon so nahrhaft wie eine Pizza roch, dabei wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal, wie sehr viel dankbarer ich ihnen bald sein würde.

Am 12. Februar im Morgengrauen rückten die Gerüstbauer an und umbauten das Haus komplett mit einer Kruste aus stählernen Stangen, Laufbohlen und Schutzplanen. Zwei Tage später begann eine Abrissfirma mit dem Abheben der Dachhaut. Alte Ziegel und Dachfenster, Regenrinnen samt Bäumchen, Flugerde und Taubenkot, Drachenleichen und Luftballonreste rutschten in meterdicken Schläuchen straßenwärts in die Bauschuttcontainer. Der Haut folgte das Gebälk, das größtenteils als Sondermüll entsorgt werden musste, weil die Balken mit Teeröl und Hylotox 59 gestrichen waren, einem Holzschutzmittel aus DDR-Produktion, das DDT enthielt. Es roch nach Kalk, Lehm, Stroh und mit fortschreitender Entkernung intimer, wie beim Ausziehen einer alten Frau. Zuletzt roch es nach vollen Windeln.

Am Tag telefonierte ich Handwerkern und Spediteuren hinterher, minderte und bezahlte Rechnungen, hörte mir die Klagen von Mietern an, entschied in Baufragen und lernte Denkmalschutz. Am Abend, wenn meine Beine schmerzten und meine Stimme heiser klang, tauchte ich mit einem Joint zwischen den Lippen in die Geschichte und die Geschichten meiner neuen Familie ein. Ich war glücklich, obwohl es jede Menge Probleme gab.

Bevor wir mit dem Neubau des Dachgeschosses, in dem vier große Wohnungen entstehen sollten, beginnen konnten, wurde das Mauerwerk untersucht. Der Statiker stellte fest, dass die Ziegelsteine der obersten Etage porös waren, vermutlich überhitzt während eines Dachbrandes im Krieg. Die Mieter der betreffenden Wohnungen mussten umgesetzt, die Zwischendecke abgenommen und ein neuer Ringanker gegossen werden.

Das war die schlechte Nachricht. Die gute war: In einem Versteck unter den Dielen der Dachhalle fanden die Bauarbeiter Kurt Weiszheits Laptop. Es war mit einem Passwort gesichert, dessen Entschlüsselung für mich kein Problem darstellte, und als ich die Datei mit dem Namen »Jahrhundertroman/Kochbuch.doc« öffnete, sah ich die Kapitelgliederung einer Familiengeschichte der Weiszheits von 1700 bis fast in die Gegenwart vor mir, sozusagen die Rezeptur für das Zusammensetzen der Puzzleteile aus dem Archiv. Andere Ordner enthielten Dateien mit ausgeschriebenen Kapiteln, Stichworten und Verweisen (»Hefter mit Briefen, zweite Reihe vor Ringbahnwand, Dunkelrotes, Handbreit vor Faden zum Grünen«). Mit Kurt Weiszheits Sortieranleitung auf dem einen und meinen Kopien des Archivs auf dem anderen Computer würde es möglich sein, die Familiengeschichte meiner Weiszheits zu sortieren.