Der Kuß des Ungeborenen

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Der kurzgeschorene Laufjunge des großen Aktienunternehmens trug eine enganliegende, mit zwei Reihen Messingknöpfe verzierte Uniform, auf der man, da sie grau war, kein Stäubchen sehen konnte. Er öffnete die Tür zum Zimmer, wo fünf Schreibmaschinistinnen saßen und fünf Maschinen klapperten, lehnte sich lässig an den Türpfosten und sagte zu einer der Damen:

»Nadeschda Alexejewna, Frau Kolymzew bittet Sie ans Telephon.«

Er lief fort. Seine Schritte waren auf dem grauen Filzteppich, der im schmalen Korridor lag, unhörbar. Nadeschda Alexejewna, ein schlankes, schöngewachsenes Mädchen von etwa siebenundzwanzig Jahren, mit sicheren und ruhigen Bewegungen und einem tiefen, klaren Blick, wie er nur Menschen, die viel gelitten haben, eigen ist, schrieb die Zelle zu Ende, erhob sich ruhig von ihrem Platz und ging ins Vestibül zur Telephonzelle. Im Gehen fragte sie sich:

»Was ist schon wieder los?«

Sie war es schon gewohnt, daß, so oft ihr ihre Schwester Tatjana Alexejewna schrieb oder sie ans Telephon rief, es in ihrem Hause irgendein neues Unglück gab: entweder war eines der Kinder erkrankt, oder der Schwager hatte Unannehmlichkeiten im Dienst, oder es gab irgendeine Affäre mit den Kindern in der Schule, oder es herrschte schließlich äußerste Geldnot. Nadeschda Alexejewna fuhr jedesmal mit der Trambahn ln die entfernte Vorstadt und half oder tröstete, so gut sie es konnte. Die Schwester war um zehn Jahre älter als sie und seit langer Zeit verheiratet. Obwohl sie in der gleichen Stadt wohnten, sahen sie sich recht selten.

Nadeschda Alexejewna trat in die enge Telephonzelle, wo es immer nach Bier, Tabak und Mäusen roch, ergriff das Hörrohr und sagte:

»Ich bin da. Bist du es, Tanja?«

Die Stimme der Schwester klang verweint und aufgeregt, genau so, wie Nadeschda Alexejewna es erwartet hatte. Sie sagte:

»Nadja, um Gottes willen, komm sofort her. Ein großes Unglück ist geschehen. Sserjoscha ist tot. Er hat sich erschossen.«

Nadeschda Alexejewna konnte im ersten Augenblick das Schreckliche, das in der Nachricht vom Tode ihres lieben fünfzehnjährigen Neffen Sserjoscha lag, gar nicht fassen. Sie stammelte:

»Tanja, Liebste, was sagst du?! Wie schrecklich! Aus welchem Grunde? Wann ist es geschehen?«

Ohne die Antwort abzuwarten, fügte sie rasch hinzu:

»Ich komme sofort hinaus, sofort.«

Sie vergaß das Höhrrohr an den Haken zu hängen, ließ es an der Schnur baumeln, lief zum Direktor und bat ihn um Erlaubnis, wegen einer dringenden Familienangelegenheit fortgehen zu dürfen.

Der Direktor gab ihr die Erlaubnis. Er machte zwar ein unzufriedenes Gesicht und brummte:

»Sie wissen ja, wieviel es vor den Feiertagen zu tun gibt. Und die dringenden Familienangelegenheiten kommen immer in der ungelegensten Zeit. Wenn es aber durchaus sein muß, dürfen Sie gehen. Bedenken Sie nur, daß die ganze Arbeit stockt.«

Nadeschda Alexejewna saß nach einigen Minuten in der Trambahn. Ihre Gedanken waren wieder an dem Punkt angelangt, zu dem sie immer zurückkehrten, wenn der ruhige Lauf ihrer Tage von unerwarteten Geschehnissen, die fast immer schmerzvoll waren, unterbrochen wurde. Ihre Gefühle waren verworren, ihre Stimmung gedrückt. Ihr Herz krampfte sich vor schmerzvollem Mitleid mit der Schwester und dem Neffen zusammen.

Der Gedanke, daß der fünfzehnjährige Junge, der sie erst vor kurzem besucht hatte, der immer lustige Gymnasiast Sserjoscha, sich das Leben genommen habe, war zu schrecklich. Auch der Gedanke an den Schmerz seiner Mutter, die ihr schweres und verfehltes Leben wie eine Last trug, war nicht weniger bedrückend. Im Leben Nadeschda Alexejewnas hatte es aber etwas gegeben, was vielleicht noch viel schwerer und schrecklicher war und was ihr die Möglichkeit nahm, sich ganz der Trauer um die Schwester und den Neffen hinzugeben. Ihr vom alten Leid bedrücktes Herz hatte nicht die Kraft, sich in einem erlösenden Strom von schmerzlichem Mitleid zu ergießen. Ein schwerer Stein lag auf der Quelle der trostbringenden Tränen. Nur einzelne spärliche Tränentropfen traten ihr in die Augen, deren gewöhnlicher Ausdruck eine gleichgültige Langeweile war.

Nadeschda Alexejewna mußte im Geiste wieder zu dem von ihr durchwanderten stammenden Kreise von Liebe und Leidenschaft zurückkehren. Zu den wenigen Tagen des Vergessens und grenzenloser Hingebung, die sie vor einigen Jahren erfahren.

Jeder Tag jenes heitern Sommers war für sie wie ein Festtag. Über der armseligen Landschaft der Sommerfrische in Finnland blaute freudig der Himmel, rieselten lustig lachend sommerliche Regengüsse. Der Harzgeruch des warmen Nadelwaldes war süßer als Rosenduft; in diesem mürrischen, und doch lieben Lande gab es ja auch keine Rosen. Das graugrüne Moos im Waldesdickicht war ein wonnevolles Lager der Liebe. Die zwischen den wild aufeinander getürmten grauen Felsen hervorsprudelnde Quelle rieselte so freudig und so hell, als ob ihr klares Wasser geradeswegs zu den Gefilden Arkadiens strömte. Süß und freudebringend war die Kühle des wohlklingenden Wasserlaufes.

Die glücklichen Tage zogen im Liebesrausche schnell dahin. Und dann kam der letzte Tag, von dem Nadeschda Alexejewna natürlich nicht wußte, daß er ihr letzter glücklicher Tag war. Alles um sie her war noch heiter, wolkenlos und freudevoll. Die weiten, harzduftenden Waldesschatten waren noch immer kühl und versonnen und das warme Moos unter ihren Füßen weich und zärtlich. Aber die Vögel waren schon verstummt: sie hatten sich Nester gebaut und Junge ausgebrütet.

Auf dem Antlitz des Geliebten lag ein seltsamer Schatten. Er hatte an diesem Tage einen unangenehmen Brief bekommen. So erklärte er es wenigstens selbst:

»Ein furchtbar unangenehmer Brief. Ich bin verzweifelt. So viele Tage muß ich von dir ferne sein!«

»Warum?« fragte sie.

Sie spürte noch immer keine Trauer. Er aber sagte:

»Mein Vater schreibt, daß die Mutter schwer erkrankt ist. Ich muß sofort hinfahren.«

Der Vater schrieb ihm etwas ganz anderes. Nadeschda Alexejewna wußte es aber nicht. Sie wußte noch nicht, daß die Liebe getäuscht werden kann, daß Lippen, die geküßt haben, lügen können.

Unter Liebkosungen und Küssen sagte er ihr:

»Ich muß fort. Ich kann nicht anders. Es ist so ärgerlich Ich weiß zwar, daß es nichts Ernstes ist, aber ich muß sofort zu meiner Mutter.«

»Es ist ja selbstverständlich,« sagte sie, »wenn deine Mutter krank ist, mußt du hin. Schreibe mir aber jeden Tag. Ich werde mich so furchtbar nach dir sehnen.«

Sie begleitete ihn wie immer bis zur Landstraße an den Waldesrand und kehrte allein durch den Wald heim. Sie war etwas betrübt, doch fest davon überzeugt, daß er bald zurückkehren würde. Er kehrte aber nicht zurück.

Nadeschda Alexejewna bekam von ihm mehrere Briefe. Es waren so merkwürdige Briefe. Sie waren unklar, verworren und voller unverständlicher Anspielungen, die ihr Angst machten. Er schrieb ihr immer seltener. Nadeschda Alexejewna ahnte schon, daß seine Liebe erloschen war. Gegen Ende des Sommers erfuhr sie zufällig von fremden Leuten, daß er sich inzwischen verheiratet hatte.

»Ja, natürlich! Haben Sie es denn noch nicht gehört? Vorige Woche war die Trauung, und dann ist er gleich mit seiner jungen Frau nach Nizza abgereist:«

»Er kann von Glück sprechen: hat sich eine so hübsche und reiche Frau ergattert«

»Ist die Mitgift groß?«

»Und ob! Ihr Vater besitzt ...«

Sie wollte aber gar nicht hören, was ihr Vater besitzt, und wandte sich weg.

Die Erinnerung an das Schreckliche, das nachher kam, drängte sich ihr gar zu oft auf, obwohl sie sich die größte Mühe gab, sie auszumerzen und in ihrer Seele zu ersticken. Es war so schwer und erniedrigend, wenn auch unvermeidlich gewesen. Als sie sich dort, wo alles noch von seinen Küssen sprach, Mutter fühlte, als sie von seiner Heirat erfuhr und die ersten Regungen des Kindes spürte, mußte sie ja schon gleich an den Tod dieses Kindes denken. Sie mußte den Ungeborenen töten!

Ihre Angehörigen erfuhren nichts. Nadeschda Alexejewna war es gelungen, unter einem glaubwürdigen Vorwande für vierzehn Tage zu verreisen. Mit großer Mühe verschaffte sie sich soviel Geld, als das böse Werk kosten sollte. In einem gemeinen Asyl wurde es vollbracht. Die Erinnerung an die grauenhaften Einzelheiten war ihr heute noch qualvoll. Krank, abgezehrt, bleich und schwach kehrte sie nach Hause zurück und verheimlichte mit traurigem Heldenmut den Schmerz und das Grauen.

Die Erinnerung an die Einzelheiten war sehr aufdringlich, aber Nadeschda Alexejewna hatte gelernt, sich nach kurzem Kampf immer wieder von der schweren Last dieser Gedanken zu befreien. So oft sie sich ihr aufdrängten, erschauerte sie kurz vor Grauen und Ekel und wandte sich sofort anderen Gedanken zu, die sie ablenkten.

Was sie aber für keinen Augenblick verließ und wogegen sie weder ankämpfen konnte noch wollte, war das liebe und zugleich schreckliche Bild ihres ungeborenen Sohnes.

Wenn Nadeschda Alexejewna allein war und mit geschlossenen Augen ruhig in ihrem Zimmer saß, besuchte sie manchmal ein kleiner Junge. Sie glaubte sogar wahrzunehmen, daß er mit der Zeit wuchs. Diese Vorstellung war so lebendig, daß sie von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr im Geiste alles durchkostete, was sonst die Mutter eines lebendigen Kindes durchkostet. In der ersten Zeit hatte sie sogar das Gefühl gehabt, daß ihre Brüste voll Milch seien. Bei jedem Geräusch fuhr sie zusammen: ob ihr Kind nicht ausgeglitten sei und sich wehgetan habe?

Manchmal hatte sie das Bedürfnis, ihren Sohn auf den Schoß zu nehmen, ihn zu liebkosen, mit ihm zu sprechen. Sie streckte die Hand aus, um sein goldblondes, seidenweiches Haar zu streicheln, die Hand aber stieß ins Leere, und Nadeschda Alexejewna hörte hinter ihrem Rücken das Lachen des Kindes, das von ihr weggelaufen war und sich irgendwo in der Nähe versteckt hatte.

Sie kannte das Gesicht ihres ungeborenen Sohnes. So deutlich sah sie es vor sich. Es war eine liebliche und zugleich grauenvolle Mischung der Gesichtszüge jenes Mannes, der ihre Liebe genommen und verworfen, der ihre Seele geraubt und bis auf den Grund geleert, der sie vergessen hatte, – die Mischung seiner trotz alledem zärtlich geliebten Züge mit ihren eigenen Zügen.

Die lachenden grauen Augen sind vom Vater. Die graziösen rosigen Ohrmuscheln – von der Mutter. Die weichen Linien der Lippen und des Kinns – vom Vater. Die rundlichen Schultern, zart wie die eines jungen Mädchens, – von der Mutter. Das goldblonde, leichtgelockte Haar – vom Vater. Und die rührenden Grübchen in den rosigen Wangen – von der Mutter.

Nadeschda Alexejewna kannte genau seine Züge und Glieder und alle seine Bewegungen und Gewohnheiten. Die Haltung der Hände und die Art, die Beine zu kreuzen, waren vom Vater, obwohl der Ungeborene seinen Vater nie gesehen hatte. Das Lachen, das zarte schamhafte Erröten hatte der Ungeborene von seiner Mutter.

Es war so süß und zugleich so schmerzhaft, als ob ein zärtlicher, rosiger Finger grausam und liebevoll eine tiefe Wunde aufwühlte. Es tat weh, wie konnte sie ihn aber von sich weisen?

»Ich will dich gar nicht fortjagen, mein ungeborener Junge. Lebe wenigstens so, wie du es kannst. Dieses Leben ist ja das einzige, das ich dir geben kann...«

»Es ist das Leben der Träume. Du lebst nur in meinen Träumen. Du armer, lieber Ungeborener! Du kannst dich niemals deiner selbst freuen, kannst nicht für dich selbst lachen und um dich selbst trauern. Du lebst und du bist nicht. In der Welt der Lebenden unter Menschen und Dingen bist du nicht. Du lebst, bist so lieb und so heiter und bist nicht. Das habe ich an dir verbrochen!«

Nadeschda Alexejewna sagte sich zuweilen:

»Jetzt ist er noch klein und weiß es nicht. Wenn er aber einmal groß ist und alles erfährt, wird er Vergleiche zwischen sich und den Lebenden anstellen und gegen seine Mutter Anklage erheben. Dann werde ich sterben müssen.«

Sie dachte gar nicht daran, daß alle ihre Gedanken wahnsinnig erscheinen würden, wenn sie der gesunde Menschenverstand, der schreckliche und wahnsinnige Richter aller unserer Handlungen richten wollte. Sie dachte nicht daran, daß der von ihr ausgeschiedene, kleine häßliche, zusammengeschrumpfte Keim nur ein lebloses Klümpchen gewesen war, ein Stück tote, unbeseelte Materie. Der Ungeborene lebte in ihrem Geiste und marterte unaufhörlich ihr Herz.

Er war ganz licht und trug ein lichtes Gewand. Seine Arme und Beine waren licht, seine unschuldigen Augen blickten heiter, und ein unschuldiges Lächeln umspielte seine Lippen. Sein Lachen klang hell und freudig. Wenn sie ihn umarmen wollte, lief er zwar davon und versteckte sich, blieb aber immer irgendwo in ihrer Nähe. Wenn sie ihn umarmen wollte, lief er davon, wenn sie aber mit geschlossenen Augen allein in ihrem Zimmer saß, umschlang er manchmal selbst ihren Hals mit seinen warmen, weichen Ärmchen und berührte ihre Wange leicht mit den Lippen. Auf den Mund hatte er aber sie noch nie geküßt.

»Er wird größer werden und alles verstehen,« sagte sich Nadeschda Alexejewna. »Er wird sich traurig von mir abwenden und mich für immer verlassen. Und dann werde ich sterben.«

Auch jetzt, als sie, im eintönig polternden überfüllten Trambahnwagen unter fremden, in Pelze gehüllten Menschen, die ihre Weihnachtseinkäufe vor sich auf dem Schoß liegen hatten, saß und die Augen schloß, erblickte sie vor sich ihren Sohn. Sie sah seine heiteren Augen und hörte, ohne auf die Worte zu achten, sein leises Flüstern. So ging es bis zur Haltestelle, wo sie aussteigen mußte.

Nadeschda Alexejewna stieg aus der Trambahn und schritt durch die schneeverwehten Straßen der Vorstadt, an den niederen Häusern, Gärten und Zäunen vorbei. Sie ging allein. Die Leute, denen sie begegnete, waren ihr fremd. Das geliebte, schreckliche Wesen begleitete sie nicht mehr. Sie dachte:

»Meine Sünde ist immer mit mir. Ich kann ihr nicht entfliehen. Wozu lebe ich noch? Ssersoscha lebt ja auch nicht mehr.«

Ein dumpfer Schmerz bohrte in ihrer Seele, und sie wußte nicht, wie sie diese Frage beantworten sollte: Wozu lebe ich? Und wozu werde ich sterben?

Sie dachte:

»Mein Kleiner ist immer mit mir. Jetzt ist er schon acht Jahre alt und kann vieles verstehen. Warum zürnt er mir aber nicht? Hat er gar keine Lust, mit den andern Kindern zu spielen, den Schneehügel da herunterzurodeln? Lockt ihn denn nicht die Schönheit unseres irdischen Lebens, die Schönheit, an der ich mich einst berauschte, die bezaubernde, wenn auch oft trügerische Schönheit dieser lieben Erde, der besten aller möglichen Welten?«

Während Nadeschda Alexejewna durch die fremde und gleichgültige Straße weiterging, wurden diese Gedanken von andern verdrängt. Sie dachte an die Familie ihrer Schwester, zu der sie ging: an den unter der Last der Arbeit schier zusammenbrechenden Schwager, an die ewig müde Schwester, an die große Schar der lärmenden, ungezogenen, immer bettelnden Kinder, an die kleine Wohnung und die ständige Geldnot. An die Neffen und Nichten, die sie liebte. Und an den Gymnasiasten Sserjoscha, der sich das Leben genommen hatte.

Wer hätte es erwartet? Er war ein so aufgeweckter, lustiger Junge.

Sie erinnerte sich noch an das Gespräch, das sie mit Sserjoscha in der vorigen Woche gehabt hatte. Der Junge schien traurig und aufgeregt. Die Rede war auf irgendeinen Vorfall, von dem er in einer russischen Zeitung gelesen hatte, also auf etwas Unheimliches und Tragisches, gekommen. Sserjoscha hatte gesagt:

»Das Leben zu Hause ist schon schwer genug, und wenn man eine Zeitung in die Hand nimmt, so sieht man auch nichts als Grauen und Ekel.«

Nadeschda Alexejewna hatte darauf etwas erwidert, woran sie selbst nicht glaubte. Sie hatte den Neffen von seinen trüben Gedanken ablenken wollen. Sserjoscha hatte aber traurig gelächelt und gesagt:

»Tante Nadja, bedenke doch, wie häßlich alles ist! Bedenke, was um uns vorgeht! Es ist doch zu schrecklich, wenn der beste aller Menschen, ein so alter Mann von zu Hause wegläuft und irgendwo in der Wildnis stirbt! Er hat deutlicher als wir all das Grauen empfunden, in dem wir leben, und er konnte es nicht ertragen. Er lief fort und starb. Es ist zu schrecklich!«

Er hatte eine Weile geschwiegen und dann die Worte gesagt, die Nadeschda Alexejewna so furchtbar erschreckten: »Tante Nadja, ich will es dir ganz offen sagen. Du bist so lieb und du wirst mich verstehen. Es ist mir so schwer, unter all den Dingen, die um uns vorgehen, zu leben. Ich weiß, daß ich ebenso schwach bin wie die andern und daß ich nichts ändern kann. Einmal werde ich wohl selbst von all dem Ekelhaften hineingezogen werden. Tante Nadja, wie richtig hat doch Nekrassow gesagt: Herrlich ist es, jung zu sterben!«

Nadeschda Alexejewna war sehr erschrocken und hatte lange auf Sserjoscha eingeredet. Schließlich glaubte sie ihn umgestimmt zu haben. Er hatte ihr lustig zugelächelt – es war sein gewöhnliches sorgloses Lächeln gewesen – und hatte gesagt:

»Es ist schon gut! Wir wollen sehen, was das Leben weiter bringt. Der Fortschritt bewegt alle Dinge, und sein Siegeszug ist unaufhaltsam.«

Sserjoschas Lieblingsdichter war weder Nadson noch Balmont, sondern Nekrassow.

Nun ist Sserjoscha nicht mehr. Er hat sich erschossen. Er wollte also nicht weiter leben und den Siegeszug des Fortschrittes mitansehen. Was mag jetzt wohl seine Mutter tun? Küßt sie seine toten, wachsgelben Hände? Oder streicht sie Butterbrot für die hungrigen, verängstigten, verweinten Kinder, die seit dem frühen Morgen noch nichts gegessen haben und in ihren abgetragenen Kleidchen und Anzügen mit durchwetzten Ellenbogen so elend aussehen? Oder liegt sie auf ihrem Bett und weint, weint ohne Ende? Wie glücklich ist sie, wenn sie weinen kann! Gibt es denn etwas Süßeres als Tränen?

Nadeschda Alexejewna war endlich am Ziel. Sie lief so schnell die steile Treppe zum vierten Stock hinauf, daß ihr der Atem ausging und sie vor der Tür stehen bleiben mußte, um auszuschnaufen. Schwer keuchend stand sie da, hielt sich mit der rechten Hand im warmen gestrickten Handschuh am eisernen Treppengeländer fest und starrte auf die Tür. Sie hatte noch nicht geklingelt.

Die Tür war mit Filz und darüber mit schwarzem Wachstuch beschlagen. Das Wachstuch war, der Schönheit oder Haltbarkeit wegen, kreuzweise mit schwarzen Streifen besetzt. Einer dieser Streifen war abgerissen und hing herunter. Das Wachstuch hatte an dieser Stelle ein Loch, aus dem grauer Filz hervorguckte. Bei diesem Anblick krampfte sich Nadeschda Alexejewnas Herz schmerzvoll zusammen. Ihre Schultern bebten. Sie drückte die Hände ans Gesicht und begann zu schluchzen. Eine plötzliche Schwäche überkam sie, sie setzte sich auf den Treppenabsatz und ließ den Tränen freien Lauf. Unter den warmen gestrickten Handschuhen brach aus den geschlossenen Augen ein unaufhaltsamer Tränenstrom hervor.

Auf der Treppe war es kalt, still und finster. Die drei Wohnungstüren standen nebeneinander verschlossen und stumm. Nadeschda Alexejewna saß auf dem Treppenabsatz und weinte. Plötzlich hörte sie die wohlbekannten leichten Schritte. Sie war wie versteinert und voll freudiger Erwartung. Ihr Sohn ging auf sie zu, umschlang ihren Hals und schmiegte sein Gesicht an ihre Wange. Dann nahm er mit seinem warmen Händchen ihre Hand im gestrickten Handschuh vom Gesicht weg, berührte mit zarten Lippen ihre Wange und sagte:

»Warum weinst du? Bist du denn schuld?«

Sie lauschte stumm seinen Worten und wagte nicht, sich zu rühren oder die Augen zu öffnen, damit er nicht verschwinde. Sie ließ die rechte Hand, die er ihr vom Gesicht genommen hatte, in den Schoß sinken und behielt die Linke auf den Augen. Sie bemühte sich, die Tränen zurückzuhalten, damit ihr Weinen, das unschöne Weinen des armen Erdenweibes ihn nicht verscheuche.

Er sagte:

»Dich trifft keine Schuld.«

Er küßte sie wieder auf die Wange und wiederholte die schrecklichen Worte Sserjoschas:

»Ich will hier nicht leben. Hab Dank, liebe Mutter.«

Dann sagte er wieder:

»Glaube es mir, liebe Mutter, ich will gar nicht leben.«

Diese Worte hatten aus dem Munde Sserjoschas so schrecklich geklungen, weil er, dem eine unbekannte Macht lebendige Menschengestalt verliehen, die Pflicht gehabt hatte, den ihm anvertrauten Schatz zu bewahren. Die gleichen Worte klangen aber aus dem Munde des Ungeborenen wie eine frohe Botschaft. Sie fragte ihn ganz leise, kaum hörbar, damit der Klang der irdischen Worte ihn nicht erschrecke:

»Liebes Kind, hast du es mir vergeben?«

Und er antwortete:

»Dich trifft keine Schuld. Wenn du es aber willst, vergebe ich dir.«

Das Vorgefühl einer ungeahnten Freude erfüllte plötzlich das Herz der Mutter. Sie wagte noch nicht zu hoffen und wußte nicht, was noch kommen würde. Langsam und scheu streckte sie ihre Arme aus, – und plötzlich saß der Ungeborene auf ihrem Schoß, sie fühlte auf ihren Schultern seine leichten Arme und auf ihren Lippen seine Lippen. Sie küßte ihn immer wieder, und es war ihr, als ob auf ihren Augen der Blick des Ungeborenen ruhte, strahlend, wie die Sonne über der frommen Welt. Sie hielt aber ihre Augen geschlossen, um das, was ein Sterblicher nicht sehen darf, nicht zu sehen und daran nicht zu sterben.

Die kindlichen Arme lösten sich, und auf den Stufen erklangen leichte sich entfernende Schritte. Der Kleine war fort. Nadeschda Alexejewna erhob sich, wischte sich die Tränen aus den Augen und klingelte an der Tür ihrer Schwester. Von Ruhe und Glück erfüllt, ging sie zu den Gramgebeugten, um Hilfe und Trost zu bringen.

I.

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Wolodja Lowljew, ein schmächtiger, blasser Junge von etwa zwölf Jahren, war soeben aus dem Gymnasium heimgekommen. In Erwartung des Mittagessens stand er im Eßzimmer am Klavier und blätterte im neuesten Hefte der ›Niwa‹, das heute früh mit der Post gekommen war.

Aus der Zeitung, die neben der ›Niwa‹ lag und eine ihrer Seiten zudeckte, fiel ein kleines Heft aus dünnem grauem Papier heraus, – der Prospekt irgendeiner illustrierten Zeitschrift. Der Herausgeber zählte darin die zukünftigen Mitarbeiter auf – es waren an die fünfzig bekannte literarische Namen – pries in schönen Worten die Zeitschrift als Ganzes wie auch jede ihrer Abteilungen für sich und gab auch einige Illustrationen als Probe. Wolodja sah sich das graue Heft und die kleinen Bildchen näher an. Seine großen Augen im blassen Gesicht mit der breit entwickelten Stirne blickten müde.

Eine Seite des Prospekts zog seine Aufmerksamkeit besonders an, und seine großen Augen wurden noch größer. Neben den Lobhymnen auf eine der Abteilungen der Zeitschrift waren auf dieser Seite sechs Abbildungen, untereinander angeordnet, abgedruckt. Sie stellten auf verschiedene Art zusammengelegte Hände dar, die schwarze Silhouetten auf eine weiße Wand warfen: das Köpfchen eines jungen Mädchens in komischem gehörnten Hut, einen Eselskopf, einen Ochsenkopf, ein sitzendes Eichhörnchen und noch etwas von der gleichen Art.

Wolodja vertiefte sich lächelnd in die Betrachtung der Bilder. Er kannte diesen Zeitvertreib und verstand, die Hände so zusammenzulegen, daß an der Wand ein Hasenkopf erschien. Hier war aber etwas, was er noch nie gesehen hatte; vor allem waren es sehr komplizierte Figuren, zu denen man immer beide Hände brauchte.

Wolodja bekam Lust, diese Schatten nachzubilden. Aber um diese Stunde, im zerstreuten Lichte des sterbenden Herbsttages würde natürlich nichts gelingen.

»Ich werde das Heft mit auf mein Zimmer nehmen, niemand braucht es ja!« sagte er sich.

Plötzlich hörte er die Schritte und die Stimme seiner Mutter, die sich aus dem Nebenzimmer näherte. Er errötete, steckte das Heft schnell in die Tasche, wandte sich vom Klavier weg und ging auf seine Mutter zu, die ihm mild lächelnd entgegen kam. Sie sah ihm sehr ähnlich und hatte dieselben großen Augen im blassen, schönen Gesicht.

Die Mutter fragte ihn wie jedesmal.

»Was gibt's Neues in der Schule?«

»Es gibt nichts Neues,« sagte Wolodja etwas unwirsch.

Es kam ihm aber gleich zum Bewußtsein, daß er mit seiner Mutter nicht höflich genug sprach, und er schämte sich. Nun lächelte er ihr freundlich zu und versuchte sich zu besinnen, was es in der Schule gegeben hatte; er fühlte aber dabei einen neuen Ärger in sich aufsteigen.

»Der Pruschinin hat sich wieder einmal ausgezeichnet,« begann er von einem Lehrer zu erzählen, der wegen seiner Grobheit bei den Schülern höchst unbeliebt war. »Unser Leontjew sagte die Aufgabe auf und kam etwas aus dem Konzept. Und der Pruschinin sagte ihm: Genug, setzen Sie sich, Holz falle auf Holz!«

»Und ihr merkt euch alles gleich!« sagte die Mutter lächelnd. »Er ist überhaupt furchtbar grob!«

Wolodja schwieg eine Weile, seufzte und fügte mit klagender Stimme hinzu:

»Und sie haben immer solche Eile!«

»Wer denn?« fragte die Mutter.

»Ach, die Lehrer... Ein jeder will den ganzen Lehrstoff so schnell als möglich erledigen und vor den Prüfungen alles noch wiederholen. Und wenn man sie irgendwas fragt, so glauben sie gleich, man wolle sie ablenken, damit die Stunde schneller vergeht und der Lehrer nicht mehr Zeit hat, die Aufgaben abzuhören.«

»Kommt dann mit euren Fragen nach der Stunde!«

»Ja, nach der Stunde haben sie auch immer Eile: da müssen sie nach Hause oder ins Mädchengymnasium. Und alles geht so schnell: erst Geometrie und dann gleich Griechisch.«

»Man muß eben aufpassen!«

»Ja, aufpassen! Wie ein Eichhörnchen im Rad... Es regt mich wirklich furchtbar auf!«

Die Mutter verzog den Mund zu einem leisen Lächeln.

II.

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Nach dem Mittagessen ging Wolodja auf sein Zimmer, um die Aufgaben zu machen. Sein Zimmer liegt abseits und ist so eingerichtet, wie wenn er der Herr im Hause wäre. Die Mutter will, daß ihr Wolodja es bequem habe, – und sein Zimmer enthält alles, was ein Arbeitszimmer enthalten soll. Niemand stört ihn hier, auch die Mutter kommt nicht herein, wenn er seine Aufgaben macht. Sie kommt erst später, um ihm zu helfen, falls er ihre Hilfe braucht.

Wolodja war ein fleißiger Schüler und hatte, wie es hieß, gute Fähigkeiten. Heute wollte aber die Arbeit nicht recht vonstatten gehen. Was er auch vornahm, immer fiel ihm gleich irgend etwas Unangenehmes ein: er mußte an den Lehrer für den betreffenden Gegenstand und an seine beißenden oder rohen Worte denken, die er nur so nebenbei hingeworfen, die sich aber in die Seele des empfindlichen Jungen tief eingruben.

Die letzten Stunden waren aus irgendeinem Grunde nicht gut ausgefallen: die Lehrer waren unzufrieden in die Schule gekommen, und die Arbeit ging schlecht vorwärts. Die Lehrer hatten Wolodja mit ihrer schlechten Stimmung angesteckt, und von den Seiten der Bücher und Hefte, die vor ihm lagen, wehte ihm eine dunkle, unbestimmte Unruhe entgegen.

Er ging von einem Gegenstand schnell zum zweiten und zum dritten über, und dieses schnelle Vorübergleiten der kleinen Dinge, die man bewältigen muß, um nicht morgen »wie Holz auf Holz« zu sitzen, dieses sinnlose und zwecklose Vorübergleiten ärgerte ihn. Vor Verdruß und Langeweile fing er sogar an zu gähnen, ungeduldig mit den Füßen zu scharren und auf dem Stuhle hin und her zu rücken.

Aber er wußte, daß alle diese Gegenstände erlernt sein müssen, daß sie sehr wichtig sind, und daß von ihnen seine Zukunft abhängt,– und er erledigte gewissenhaft die ihm so langweilig erscheinende Arbeit.

Plötzlich machte er in seinem Heft einen kleinen Klecks und legte die Feder weg. Er sah sich den Klecks genauer an und beschloß, ihn mit dem Federmesser auszuradieren. Er freute sich schon über diese Arbeit, die einige Abwechselung bringen würde.

Auf dem Tisch war kein Messer zu finden. Wolodja suchte eine Weile in der Tasche und fand es unter den verschiedenen unnützen Dingen, die er, wie alle Jungen, ständig mit sich herumschleppte. Als er es herauszog, kam zugleich auch irgendein Heftchen zum Vorschein.

Im ersten Augenblick wußte er noch nicht, was es für ein Heftchen war; als er es aber herauszog, erinnerte er sich an den Prospekt mit den Schattenbildern und wurde sofort lustig und lebhaft.

Das war wirklich das Heft, an das er nicht mehr gedacht hatte, als er sich mit seinen Aufgaben beschäftigte.

Er sprang flink vom Stuhl, rückte die Lampe näher zur Wand und blickte ängstlich auf die verschlossene Türe, ob nicht jemand käme. Dann schlug er das Heft auf der wohlbekannten Seite auf, studierte aufmerksam die erste Zeichnung und versuchte, die Hände auf die angegebene Art zusammenzulegen. Der Schatten geriet zuerst undeutlich, nicht so, wie er sein sollte. Wolodja rückte die Lampe hin und her und krümmte und spreizte die Finger so lange, bis endlich auf der weißen Wand der Mädchenkopf mit dem gehörnten Hute erschien.

Wolodja war es nun lustig zumute. Er neigte die Hände und bewegte leise die Finger, und der Kopf nickte, lächelte und zeigte komische Grimassen.

Wolodja ging dann zu der zweiten Figur über und nach dieser zu den übrigen. Sie alle wollten anfangs nicht recht gelingen, aber Wolodja brachte sie schließlich doch fertig.

So verging eine halbe Stunde, und er hatte die Aufgaben, das Gymnasium und die ganze Welt vergessen.

Plötzlich erklangen hinter der Türe wohlbekannte Schritte. Wolodja errötete, steckte das Heft in die Tasche, stellte die Lampe auf ihren Platz, so schnell, daß sie beinahe umfiel, und beugte sich über das Heft. Seine Mutter trat ins Zimmer.

»Wolodja, komm Tee trinken,« sagte sie.

Wolodja tat so, als ob er den Klecks betrachtete und das Messer öffnen wollte. Die Mutter legte ihm ihre Hände liebevoll auf den Kopf. Wolodja legte das Messer weg und schmiegte sich errötend an die Mutter. Sie schien nichts bemerkt zu haben, und Wolodja war froh darüber. Und doch schämte er sich, wie wenn man ihn an einem dummen Streich ertappt hätte.

III.

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Auf dem runden Tisch im Eßzimmer sang der Samowar sein leises Lied. Die Hängelampe ergoß über die weiße Tischdecke und die dunklen Tapeten eine sanfte, müde Stimmung.

Die Mutter hatte ihr schönes, blasses Gesicht tief geneigt und war in Gedanken versunken. Wolodja hatte beide Hände auf dem Tische liegen und rührte den Tee mit dem Löffel um. Süße Ströme zogen durch die Flüssigkeit, und kleine Bläschen stiegen an die Oberfläche. Der silberne Löffel klirrte leise...

Das kochende Wasser tropfte aus dem Samowarhahn in die Tasse der Mutter...

Der Löffel warf auf die Untertasse und das Tischtuch einen leichten, im Tee aufgelösten Schatten. Wolodja betrachtete ihn aufmerksam: der Schatten des Löffels inmitten der Schatten der süßen Ströme und der Luftbläschen erinnerte ihn an etwas, er wußte aber selbst noch nicht, woran. Er drehte den Löffel hin und her, trommelte auf ihn leise mit den Fingern, es kam aber nichts heraus.

»Es muß aber gehen!« sagte er sich trotzig: »Man kann Schatten nicht nur mit den Fingern machen. Es geht auch mit allen anderen Dingen, es gehört nur eine gewisse Geschicklichkeit dazu.«

Wolodja betrachtete genau die Schatten des Samowars, der Stühle, des Kopfes seiner Mutter und des Teegeschirrs und suchte in ihnen die Ähnlichkeit mit anderen Dingen zu finden. Die Mutter sagte etwas, und Wolodja hörte kaum zu. »Wie lernt jetzt Ljoscha Siinikow?« fragte die Mutter.

Wolodja betrachtete gerade den Schatten der Milchkanne. Er fuhr plötzlich zusammen und antwortete schnell:

»Wie ein Kater!«

»Wolodja, du schläfst ja!« sagte die Mutter erstaunt.

»Was für ein Kater?«

Wolodja errötete.

»Ich weiß nicht, wie ich daraufkomme,« sagte er. »Verzeihe, Mutter, ich habe schlecht gehört.«

IV.

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Am nächsten Abend vor der Teestunde erinnerte sich Wolodja wieder an die Schatten und machte sich wieder an diesen Zeitvertreib. Ein bestimmtes Bild wollte ihm immer nicht gelingen, was er mit seinen Fingern auch anfangen mochte.

Wolodja war in diese Beschäftigung so vertieft, daß er gar nicht merkte, wie die Mutter ins Zimmer trat. Als er die Türe knarren hörte, steckte er das Heft schnell in die Tasche und wandte sich verlegen von der Wand weg. Die Mutter blickte aber schon auf seine Hände, und ein leiser Argwohn durchzuckte ihre großen Augen.

»Was treibst du hier, Wolodja? Was hast du eben versteckt?«

»Es ist nichts!« stammelte Wolodja errötend und verlegen.

Die Mutter glaubte, daß Wolodja eben rauchen wollte und die Zigarette versteckt habe.

»Wolodja, zeig mir sofort, was du eben in die Tasche gesteckt hast!« sagte sie erschrocken.

»Wirklich, Mutter...«

Die Mutter faßte ihn am Ellbogen.

»Soll ich vielleicht selbst in deiner Tasche nachsehen?«

Wolodja errötete noch mehr und zog aus der Tasche das Heftchen heraus.

»Hier!« sagte er, es der Mutter reichend.

»Was ist das?«

»Es sind Bildchen darin,« erklärte Wolodja, »siehst du, Schatten. Ich wollte sie auf die Wand werfen, aber sie gerieten mir nicht recht.«

»Nun, was gibt's denn da zu verstecken?« sagte die Mutter beruhigt. »Was sind's für Schatten? Zeig sie mir einmal!«

Wolodja schämte sich, gehorchte aber der Mutter und begann die Schatten vorzuführen.

»Siehst du, das ist der Kopf eines Herrn mit einer Glatze, und das da – ein Hasenkopf!«

»Ach du!« sagte die Mutter. »So machst du also deine Aufgaben!«

»Ich habe mich nur ein wenig damit abgegeben, Mutter.«

»Ja, ein wenig! Warum bist du aber so rot geworden, mein Lieber? Ich weiß zwar, daß du alles, was du mußt, gewissenhaft machst.«

Die Mutter fuhr ihm mit der Hand in seine kurzen Haare. Wolodja lachte und barg sein glühendes Gesicht zwischen ihren Armen.

Die Mutter ging hinaus, und Wolodja fühlte sich noch immer beschämt und etwas ungemütlich. Die Mutter hatte ihn bei einem Zeitvertreib erwischt, über den er wohl selbst lachen würde, wenn einer seiner Schulkameraden sich damit abgegeben hätte.

Wolodja wußte, daß er ein kluger Junge war, und hielt sich selbst für sehr ernst. Und doch gab er sich mit einer Sache ab, die für ein Mädchenkränzchen passen würde.

Er steckte das Heft mit den Schatten tief in die Schublade seines Tisches und nahm es mehr als acht Tage nicht heraus. Acht Tage dachte er sogar fast nie an die Schatten. Höchstens ab und zu am Abend, wenn er seine Aufgaben machte und von einem Gegenstand zum andern überging, lächelte er beim Gedanken an den gehörnten Mädchenkopf, wollte sogar das Heft wieder herausholen, erinnerte sich aber gleich daran, wie ihn die Mutter neulich ertappt hatte, schämte sich und lernte weiter.

V.

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Wolodja und seine Mutter, Jewgenia Stepanowna, wohnten am Ende der Gouvernementsstadt im eigenen Hause. Jewgenia Stepanowna war seit neun Jahren Witwe. Nun war sie fünfunddreißig Jahre alt, noch immer jugendlich und schön, und Wolodja hing an ihr mit zärtlicher Liebe. Sie lebte ganz für den Sohn, erlernte zugleich mit ihm die alten Sprachen und teilte alle seine Schulsorgen. Sanft, freundlich und ein wenig ängstlich, blickte sie in die Welt mit ihren großen Augen, die mild in ihrem blassen, schönen Gesichte strahlten.

Sie hatten nur einen Dienstboten: Praskowja, eine mürrische, doch rüstige und kräftige Witwe. Sie war vielleicht fünfundvierzig Jahre alt, aber so schweigsam, daß man sie für hundertjährig halten konnte.

Wenn Wolodja ihr finsteres, wie aus Stein gemeißeltes Gesicht ansah, fragte er sich oft, woran sie in ihrer Küche an den langen Winterabenden wohl denken möge, wenn die kalten Stricknadeln in ihren knöchernen Händen eintönig klirren und die trockenen Lippen lautlos Rechnungen murmeln ... Denkt sie da an ihren Mann, den Trunkenbold? Oder an ihre früh verstorbenen Kinder? Oder an ihr eigenes einsames und heimloses Alter? ...

Hoffnungslos traurig und ernst ist ihr versteinertes Gesicht ...

VI.

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Ein langer Herbstabend. Draußen Regen und Wind.

Langweilig und gleichgültig brennt die Lampe.

Wolodja stützt den Kopf in die Hände, neigt sich über den Tisch nach links und schaut auf die weiße Tapete und auf den weißen Fenstervorhang.

Die bleichen Blumen des Tapetenmusters sind nicht zu sehen ... Es ist eine so langweilige weiße Farbe.

Der weiße Lampenschirm hält einen Teil der Lichtstrahlen zurück. Die ganze obere Hälfte des Zimmers liegt im Halbdunkel.

Wolodja streckt die rechte Hand aus. Auf der vom gedämpften Licht schwach beleuchteten Wand erscheint ein langer, verschwommener Schatten ...

Der Schatten eines Engels, der von dieser sündhaften, traurigen Welt in den Himmel stiegt, ein durchsichtiger Schatten mit breiten Flügeln und auf die Brust gesenktem Haupt...

Trägt nicht der Engel in seinen zarten Händen etwas Wichtiges, doch von den Menschen Unbeachtetes aus dieser Welt fort?

Wolodja holt schwer Atem. Er läßt die Hand träge sinken und blickt gelangweilt in das Lehrbuch.

Ein langweiliger Abend ... Eine langweilige Farbe ... Draußen weint und schluchzt es ...

VII.

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Die Mutter ertappte Wolodja zum zweitenmal bei den Schatten.