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Michael Duesberg

IM TODESHAUCH
DER
LEMUREN

VERBAUTE WEGE ZUM GLÜCK

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Impressum:

Korrektorat/Satz/Umschlaggestaltung:

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN:978-3-7439-1206-9 (Paperback)
978-3-7439-1207-6 (Hardcover)
978-3-7439-1208-3 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Michael Duesberg

IM TODESHAUCH
DER
LEMUREN

VERBAUTE WEGE ZUM GLÜCK

VORWORT

„Wie herrlich weit haben wir’s doch heute gebracht!“ Haben Sie diesen Satz schon einmal gehört? Wählen wir bestimmte Zeit-Inseln innerhalb der Vergangenheit aus oder blicken wir auf eng umgrenzte Bereiche unserer heutigen Kultur, so mag diese Aussage sogar stimmen, aber pauschal ist sie falsch. Sie lässt erkennen, dass dem Sprecher entscheidende Dinge unbekannt sind. Was immer wir jedoch an positiven Fakten für die Jetztzeit zusammentragen mögen, dem feinfühligen Zeitgenossen bleibt ein vages Gefühl der Unzufriedenheit erhalten, welches ihn warnt und ihm zuflüstert, dass heutzutage etwas ganz und gar nicht stimmt. Die Frage, um was genau es sich dabei handelt, ist schwieriger zu beantworten. Umso besser, wenn sie gestellt wird! Wenden also auch wir uns dieser Frage zu und gehen wir ihr nach!

Aus den Problemen unserer Zeit, die vor uns allen ausgebreitet liegen, schälen sich bei genauerem Hinsehen „Problemfelder“ heraus, die zwar untereinander vernetzt sind, aber doch auch eigenständige Bereiche bilden. Diese können wir folgendermaßen zusammenfassen:

1.) Das Patriarchat – die verkannte Gefahr

2.) Der Materialismus – die einseitige Weltsicht

3.) Der Egoismus – Wege zum Unglücklichsein

4.) Das alternde Sozialleben – die falsche Richtung

5.) Fehler in der Geldwirtschaft – das dreiste Delikt

6.) Schein vor Sein – wir machen uns zum Affen

Könnten wir diese sechs Problemfelder erfolgreich auflösen, so hätten wir – na ja, vielleicht nicht gerade den Himmel auf Erden, doch könnten wir durchaus in die Vorstufe eines neuen Goldenen Zeitalters eintreten, eines solchen, wie es die Philosophen und Dichter der Antike begeistert beschrieben haben. Doch das liegt noch in weiter Ferne, weil es zur Auflösung der Problemfelder der ganzen Menschheit bedarf, und diese momentan so uneins und zersplittert auf dem Erdenrund zusammenlebt, dass ihre einzige Gemeinsamkeit just die ist, keine zu haben. Wir sagen im Scherz: „Drei Fachleute – vier Ansichten“, und das beschreibt unser Dilemma besser als alle Beispiele.

Was wir jedoch als Einzelne tun können ist, uns so gründlich mit den Problemen unserer Zeit zu beschäftigen, dass wir sie zuerst einmal selbst verstehen und hernach anderen erklären können. Dass wir unbequeme Wahrheiten akzeptieren lernen. Dass wir unser Bewusstsein so weiten, dass wir wieder Weltbewegendes darin aufnehmen können und nicht nur Wahrheitsschnipsel in Suppenwürfelgröße. Die Arbeit an der Verbesserung der Welt fängt dummerweise immer beim eigenen Selbst an: Um so viel, wie du an dir selbst veränderst, veränderst du auch die Welt.

Dazu alles Gute und viel Erfolg!

I. Das Patriarchat – die verkannte Gefahr

1. Einführung

2. Was wissen wir über die „Große Mutter“?

3. Die Dreieinigkeit

4. Der Kampf gegen die Göttin

5. Kriege

6. Verunglimpfung

7. Beschneidung und Mord

8. Mann und Frau

9. Gewalt bis heute

10. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen

11. Wider die Natur

12. „Verbesserungen“

13. Künstliche Welten

14. Fazit

15. Die Zeitalterlehre

16. Zusammenfassung

17. Die Folgen für den Einzelnen

II. Der Materialismus

1. Einführung

2. Dummheit

3. Auf Abwegen

III. Der Egoismus

1. Einführung

2. Das Schwanenspiel

IV. Schein und Sein

1. Einführung

2. Zeit und Schein-Zeit

2.1 Die manipulierte Zeit

2.2 Die zwölf Tageszeiten heißen:

2.3 Wahre Ortszeit (WOZ)

2.4 Versuch einer Charakteristik der Tageszeiten

2.4.1 Der Morgen
2.4.2 Der frühe Vormittag
2.4.3. Der späte Vormittag
2.4.4. Der Mittag
2.4.5. Der frühe Nachmittag
2.4.6. Der späte Nachmittag
2.4.7. Der Abend
2.4.8. Der späte Abend
2.4.9. Die Nacht vor Mitternacht
2.4.10. Die Mitternacht
2.4.11. Die Nacht nach Mitternacht
2.4.12. Der frühe Morgen
2.4.13. Zusammenfassung

V. Sozialleben

1. Die soziale Umgebung

1.1 Geistesleben

a) Kunst
b) Wissenschaft
c) Religion

1.2 Rechtsleben

a) Gesetzgebung
b) Politik
c) Strafverfolgung

1.3 Wirtschaftleben

a) Industrie
b) Produktion
c) Ernährung

2. Sozialgestalt

3. Die Folgen für die Gemeinschaft

VI. Geldwirtschaft

1. Geld

2. Diskontsatz

3. Zinsen

Literaturverzeichnis

Als das Patriarchat sich über 3000 Jahre lang ausgetobt hatte, nahm es sich Mitte des 19. Jahrhunderts nicht etwa die bis dahin gedemütigte MUTTER zur Gemahlin, sondern deren kaltes Gegenbild, die STIEFMUTTER.
Dieser Ehe entsprossen mehrere problematische Kinder.
Die MUTTER aber schmachtet seit jener Zeit in den Verliesen der Seele.

I. Das Patriarchat – die verkannte Gefahr

1. Einführung

Stellen wir an den Anfang dieses Hauptkapitels eine provokative Frage: Wer, bitteschön, sollte sich heutzutage noch vor dem Patriarchat fürchten?

Klar – das Patriarchat war und ist wohl nicht eben ein schönes Kapitel in unserer Kulturgeschichte, darüber sollten wir uns schon einig sein, aber muss es deshalb heute noch eine Gefahr darstellen?

Wenn Sie dieses Buch aufmerksam lesen, wird Ihnen unsere Geschichte ab ca. 1200 v. Chr (indogermanische Völkerwanderung) und werden Ihnen viele Phänomene des heutigen Lebens in einem ganz neuen Licht erscheinen. „Verändere den zeitlichen Rahmen deines Geschichtsbildes, und du veränderst deinen Blickwinkel auf die Fakten.“ Lassen Sie den neuen Blickwinkel ruhig auf sich zukommen!

Wir assoziieren mit „Patriarchat“ üblicherweise die Herrschaft der Männerwelt über die der Frauen. Das ist vordergründig richtig, aber nur ein Teil des Problems. Das weitaus größere Problemstück, das unser Denken, Fühlen und Wollen seit etwa sechstausend Jahren prägt, ist das gefährlichere: weil es nicht erkannt wird und wir die Welt weiterhin konsequent nach ihm gestalten. Es verbirgt sich im gewohnt Alltäglichen.

Mittlerweile scheinen die Frauen in vielen Teilen der Erde „Manns genug“ (pardon!) zu sein, sich gegen die männliche Bevormundung zur Wehr zu setzen. Wie aber sieht es mit all den anderen Eigentümlichkeiten des Patriarchats aus, jenen, die nicht so bekannt und nur Wenigen vertraut sind? Altlasten, die nicht in gleicher Weise Eingang in unser Bewusstsein gefunden haben? Die sich aber ebenso aus den Anfängen des Patriarchats entwickelt haben wie die Unterdrückung der Frau? Diese unbekannten Seiten sollen hier wirklichkeitsgetreu dargestellt werden nach dem Motto: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“.

2. Was wissen wir über die „Große Mutter“?

Wenden wir uns zuerst dem Thema zu: „Was gab es denn eigentlich vor dem Patriarchat für eine Lebensweise?“ Was spielte sich in der Welt ab, bevor sich die patriarchal orientierten Völker während der Indogermanischen Völkerwanderung über die Welt verbreiteten? Tauchen wir in diese Vorzeit ein, so erleben wir eine starke Veränderung gegenüber allen uns heute vertrauten Lebensentwürfen. Die Menschen waren noch nicht sesshaft, sondern schweiften ungebunden über die Erde hin. Sie sammelten als Wildbeuter-Gemeinschaften, was Mutter Erde für sie bereithielt, essbare Pflanzen oder Pflanzenteile, Früchte, Beeren und Pilze und sie fingen Fische, Vögel und Wild, weshalb ihr älterer Name „Jäger und Sammler“ lautet.

Welche Sozialformen waren damals üblich? Die Menschen lebten in matrilinearen Sippenzusammenhängen, innerhalb derer die Nachkommen ausnahmslos zur Sippe der Mutter gehörten. In der die Männer ihre eigene (ebenfalls matrilineare) Sippe verließen, wenn sie einer Frau folgten; sie schlossen sich dann als „Externe“ dem Clan der Frau an. Die Vaterschaft galt als unbedeutend, weil der Zusammenhang von Beischlaf und Kindersegen unbekannt war (und das auch noch Jahrtausende lang blieb). Diese matrifokalen Sippen mit den externen Männern zogen sammelnd, erntend und jagend über das Land hin. Der größte Anteil an der Nahrungsbeschaffung lag mit etwa 75 – 80 % beim Frauenkollektiv, während die jagende Männergruppe für zusätzliche 20-25 % in Form von Jagdbeute sorgte.

Die Welt wurde noch als große Einheit erlebt, innerhalb derer die Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, aber auch die Gottheit, die Naturwesen, Geister und Dämonen zusammen existieren und miteinander kommunizierten. Geburt, Leben, Lieben und Sterben waren wie ein ständiges Kommen, Verweilen und Gehen, weil die Weltanschauung noch nicht in ein Diesseits und Jenseits zerlegt und daher grenzenlos weit war. Später nennt man diesen Zustand „magische Zeit“, „magische Fähigkeiten“, „Hellsichtigkeit“, „Clairvoyance“ oder verweist ihn schlicht ins Reich der Fabel.

Die allumfassende Muttergottheit jener Frühzeit nannte man später Magna Mater oder Große Mutter. Ihre Verehrung begann wohl frühestens zwischen 600 000 und währte bis etwa 2000 v. Chr.! Die Tatsache, dass unterschiedliche Zeitangaben für ein und dasselbe Geschehen genannt werden, rührt daher, dass bestimmte Entwicklungsstufen und Ereignisse nicht gleichzeitig an allen Stellen der Erde, sondern versetzt stattfanden. So beginnt die indoeuropäische Völkerwanderung im Orient bereits zwischen 4400 und 2200 v. Chr., aber erst um 1200 v. in Europa mit dem Einfall der Dorer nach Griechenland. Dazu kommt, dass manche Wandervölker früh losgezogen waren, sich mit der Urbevölkerung eines geographischen Raumes verbunden hatten und ihrerseits durch spätere Wanderzüge unterworfen, vertrieben oder ausgerottet wurden. Nach der Kurgan-Hypothese gingen die verschiedenen Wanderbewegungen von einem Gebiet in Südrussland um das Schwarze Meer herum aus.

Sobald wir uns dem Thema Urmutter-Gottheit nähern, befinden wir uns sofort und unerwartet in einer Art Kulturkampf, der unbemerkt, aber heftig um das Thema der Magna Mater ausgefochten wurde und wird. Wir platzen gewissermaßen in eine Auseinandersetzung hinein, welche einerseits die Wurzeln unserer Existenz betrifft, andrerseits mit den Themen „Feminismus“, „Patriarchatsforschung“, „Vorgeschichtsforschung“, „Bewertung und Interpretation archäologischer Funde“, Anthropologie, Ethnologie, Sprachforschung und anderen Bereichen zu tun hat. Versuchen wir zu sortieren:

1.) Es gab und gibt Forscher, welche heute noch allen Ernstes die Existenz einer Gottheit wie der Großen Mutter leugnen oder anzweifeln.

2.) Ein Teil der mit dem Thema befassten Forscher gesteht der Großen Mutter eine Existenz während der Jungsteinzeit zu, also etwa zwischen 10.000 und 2000 v. Chr. Ab ca. 2000 setzte sich dann der letzte große Schub der indogermanischen Völker in Bewegung.

3.) Seit Jahren weisen Forscher darauf hin, dass etliche der ausgegrabenen Figurinen, Frauengestalten im Stile der Großen Mutter, viel weiter als bis 10 000 zurückdatiert werden können (z. B. Tan-Tan in Marokko; Rebekhat Ram, Golanhöhen, Israel/Syrien; Laussel, Dordogne und Lespugue, Haute Garonne, Frankreich; Hohler Fels, Schelklingen, Schwäbische Alb, Deutschland; Dolni Vestonice, Mähren, Tschechien; Avdeevo, Russland u. a.).

Warum also sollten diese Figuren nicht ebenfalls Darstellungen der Urmutter sein? Und es gibt bestimmte Grabstätten im Stil der späteren Gräber zwischen 10 000 und 2000 (z. B. die Höhle von Sima de los Huesos in Atapuerca, Burgos, Spanien), die bis um 600 000 oder 500 000 v. Chr. zurückdatiert werden können. Damit aber würde die Urmutter-Kultur viel weiter als bis 10 000 v. Chr. zurückreichen und mehr oder weniger 600 000 Jahre gedauert haben!

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Abb 1.
Die Venus von Willendorf, ca. 23 000 v. Chr. Paläolithische Fruchtbarkeitsfigur

An die schon wissenschaftlich heiklen Fragen hängen sich sodann Vertreter der verschiedensten weltanschaulichen und wissenschaftlichen Richtungen, die eine bestimmte Weltsicht – Matrifokalität oder Patriarchat – vertreten. Ethnosoziologie, Kulturanthropologie, Soziobiologie, Ethologie und andere wetteifern um die Deutungshoheit über die ferne Vergangenheit. Trotz der zahlreichen weit gestreuten Funde und den überzeugenden Arbeiten vieler Magna-Mater-Forscherinnen und -forscher wird heute in manchen tonangebenden Fachkreisen eine Urmutter-Religion deswegen noch immer für unwahrscheinlich gehalten, „weil es fragwürdig und kaum wissenschaftlich erscheine, von einer ungebrochenen Kontinuität im religiösen Bereich über mehrere tausend Jahre auszugehen.“ (Diese Kritik wurde erstmals 1962 von Peter Ucko geäußert in: The Interpretation of Anthropomorphic Figurines. In: Journal of the Anthropological Institute of Great Britain and Ireland).

Doch wir kommen nun einmal nicht um die Tatsache herum, dass wir in fast allen indogermanischen Kulturen Hinweise auf eine vor-indogermanische göttliche Urmutter finden. So stoßen wir z. B. in Griechenland auf Ge oder Gaia (die Erde) als Urmutter aller Götter. Viele Forscher behaupten, dass der Ursprung ihrer Verehrung bereits in die Epoche zurückfalle, in welcher die Griechen noch mit den übrigen indoeuropäischen Völkern eine Einheit bildeten. Bei vielen dieser Völker finden sich wesensverwandte Göttinnen. Auch Gaias Töchter Rhea und Demeter galten in bestimmten Regionen und zu gewissen Zeiten als Urmütter.

Eindeutig ist auch in der irisch-keltischen Kultur die Rolle der Dana: Sie ist die Mutter aller Götter. Sie gestaltete mit ihren Götterkindern die Erde.

Für die Vertreter ausgeprägt patriarchalen Denkens ist die Vorstellung einer früheren nicht-patriarchalen, mütter-zentrierten (matrifokalen) Gesellschaft fast unerträglich. Und doch gab es sie, ja, es gibt sie heute noch, allerdings weltweit nur noch bei ca. 25 bis 30 Völkern. Das sind:

die Minangkabau auf Sumatra

die Tolai in Papua-Neuguinea

die Bougainvilleer im Südpazifik

die Marshaller im Westpazifik

die Palauer im Westpazifik

die Trobriander im Südpazifik

die Mosuo in China

die Khasi und die Garo in Nordostindien, die Nayar in Südindien

die Akan in Ghana, Togo und der Elfenbeinküste

die Tuareg in Nordafrika

die Makonde in Tansania und Mosambik

die Serer im Senegal

die Chewa in Malawi

die Akebu in Togo

die Luvale in Angola und Sambia

die Irokesen in den USA und Kanada

die Navajo, Zuñi, Acoma und Jemez in New Mexico, die Hopi in Arizona, USA

die Wayúu (Guajiro) und die Wayapopihíwi in Kolumbien und Venezuela

die Warao in Venezuela

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Abb. 2
Weibliche Statuette von Samarra 7. Jahrtausend v. Chr.

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Abb. 3
Die schwäbische Venus vom Hohlefels, ca. 40 000 Jahre alt

Von 500 000 vor unserer Zeitrechnung bis in die Jungsteinzeit hinein liegen uns Funde Tausender Urmutter-Figurinen vor, ca.10-20 cm großer Figürchen aus Stein, gebranntem Ton oder Lehm, Knochen und Elfenbein, die gestaltlich auf jene Vorzeitgöttin hinweisen. Deren Wesen zu ergründen und Bruchstücke aus verschiedenen Bereichen zu ihrer Mythologie zu rekonstruieren, wird uns durch mehrere Quellen möglich:

1.) durch besagte Funde selbst; dazu Höhlenmalereien; damalige und spätere Begräbnisformen; Grab-, Tempel-, Stein- und Erdanlagen und deren Anordnung in der Landschaft; überdies Landschafts-, Flur- und Gewässernamen;

2.) Teile späterer Mythologien, dazu Märchen, Sagen, Gedichte oder Lieder der (patriarchal orientierten) indogermanischen Völker: Inder, Kelten, Germanen, Griechen und anderer;

3.) spätere Kultformen, Bräuche und Kulturgüter, die erkennbar von früheren abgeleitet oder übernommen worden sind;

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Abb. 4
„Silbury Hill“ in Wiltshire, England, vermutlich um 2600 v. Chr. errichtet

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Abb. 5
Grabhügel von Leubingen, er datiert in die frühe Bronzezeit.

Man könnte meinen, das sei ja nun eine hinreichende Menge an Indizien, doch dabei lässt man leicht außer Acht, dass dieselben zeitlich über Jahrtausende verteilt sind und räumlich über Tausende Quadratkilometer verstreut liegen. Selbst ein Zusammenhang von Urmutter-Eigenschaften und den Attributen späterer indogermanischer Göttinnen ist nicht unumstritten. Daher: Ohne umfassende Kenntnisse späterer Mythologien und etwas Fantasie zum Ergänzen der fehlenden Puzzleteile geht also gar nichts, und just diese Fantasie wird Forschenden gern zum Vorwurf gemacht. Man kann daher nur hoffen, dass sich die für dieses Thema eingesetzte Fantasie schon so weit in „exakte Fantasie“ (Goethe) umwandeln ließ, dass sie die Vergangenheit möglichst getreu rekonstruiert.

Und wie sah diese Göttin aus? Was waren ihre Attribute? Wie wirkte sie im Weltganzen? Wir wissen über sie, dass sie z. B. die Menstruation bei den Frauen und die Gezeiten des Meeres bewirkte; sie gebot über die Fruchtbarkeit der Erde, des Menschen und der Naturreiche. Sie war Liebes-, Fruchtbarkeits- und Todesgöttin zugleich. Und sie spann und verwob die drei „Götter-Fäden“, den Gedankenfaden, den Lebensfaden und den Schicksalsfaden, in das Schicksalsgeflecht der Menschen, der Welt und der Zeiten. Jahrtausende später, unter neuen Namen wie Frau Holle oder Frau Perchta, wurde sie noch immer mit Spinnrad, Spindel und Rocken dargestellt. Ihre drei Aspekte traten je nach Tages- oder Jahreszeit und Schicksalssituation stärker oder weniger stark hervor. Seitdem Tradition und Brauchtum in Mitteleuropa am Schwinden sind, verlieren nun aber auch diese wertvollsten kulturellen Elemente an Glanz. Eine Frau Holle lockt heute niemanden mehr hinterm Ofen hervor. Und doch galt sie bei Brauchtumsforschern und Sprach- und Literaturwissenschaftlern bis zu den Weltkriegen als die „volksmythologisch bedeutsamste Gestalt der Deutschen“ (Jakob Grimm, 1785-1863, Begründer der Philologie und Altertumswissenschaft).

Erst in den letzten 50 Jahren erleben wir eine Art verborgene Renaissance von Frau Holle, Frau Perchta und Luzia durch eine Forschungsrichtung, die während ihrer Entstehungszeit von vielen noch belächelt wurde, nämlich die „Matriarchatsforschung“, die sich ganz zwanglos aus den Forschungen von Geschichtswissenschaft, Archäologie, Ethnologie und Soziologie ergeben hatte. Heute lacht kaum noch jemand darüber, höchstens über den Namen „Matriarchat“, weil letzterer irreführend ist; geht er doch von einer Art „Macht“, „Herrschaft“ (αρχη = arché) der Frauen aus, wie wir solches vom Patriarchat her kennen. Die Zeit, da Frauen sich im Mittelpunkt menschlicher Gemeinschaften befanden, litt wohl eher nicht unter heimlicher Machtbesessenheit oder anderen männlichen Gelüsten. Darum spricht man heute besser von „Matrifokalität“, „matrifokaler Zeit“ und „matrilinearer“ Erbfolge (Kinder werden in die Sippe der Mutter geboren). „Matrilokal“ bedeutet, dass der Mann bei der Ehe (auch geographisch) seine Sippe verlässt und in die der Frau „einheiratet“, wodurch er allerdings nicht auch zu dieser gehört, wohl aber zu deren Clan.

Immer mehr Forscher entdeckten während der letzten 100 Jahre Zusammenhänge zwischen

den Frauengestalten Holle, Perchta und Luzia in Brauchtum, Märchen und Sagen und

einzelnen Göttinnen der germanischen Mythologie und wiederum zwischen diesen und

der Vorzeitgöttin Magna Mater.

Allmählich schälte sich auch heraus, dass nicht nur berühmte Ausgrabungsstätten wie Catal Hüyük, die Megalithtempel Maltas, die Steinsetzungen und Hügelaufwerfungen Westeuropas oder die Höhlenmalereien Spaniens und Frankreichs etwas über die Weltanschauung der Vergangenheit aussagen, sondern auch die indogermanischen Mythologien, die verschiedenen indoeuropäischen Sprachen und sogar Märchen, Sagen, Dichtung und Brauchtum der eigenen Kultur. Seither ergeben sich ganz neue Aspekte bei der Beschäftigung mit Frau Holle, Frau Perchta und Luzia.

Noch ein Wort zur Herkunft des Namens „Magna Mater“. Dieser stammt ursprünglich aus der archäologischen Fachliteratur und wurde da fast ausschließlich für die phrygische Göttin Kybele verwendet. Zur Erinnerung: Die Phryger waren ein indoeuropäisches Volk, das im 8. Jhdt. v. Chr. ein großes Reich in Anatolien errichtete. Homer erwähnt sie in der Ilias 700 v. Chr. als Verbündete der Trojaner. Im Anatolischen wird ihr Name mit Kybele oder Kubaba überliefert, ursprünglich „Matar Kubile“ (Mutter Kybele). Älteste Zeugnisse dieser Göttin stammen aus dem 19. Jahrhundert v. Chr. vom oberen Euphrat. Kybele galt ursprünglich in Kleinasien und nach der Hellenisierung auch bei den Griechen als die Urmutter, die Erzeugerin des Lebens, als (Bergund) Erdmutter, als Beschützerin der Städte, sowie als Fruchtbarkeitsgöttin und Göttin speziell des weiblichen Geschlechtes.

Kybele (Κυβέλη) ist der gräzisierte Name der Göttin, welche „Die große Göttermutter vom Berge Ida“ oder latinisiert „Mater Deum Magna Ideae“ hieß. Daraus entwickelte sich dann vereinfachend Magna Mater.

1994 veröffentlichte der Autor Manfred Kurt Ehmer das Buch „Göttin Erde“. In seinen populärwissenschaftlichen Schriften verwendete er erstmals den Ausdruck „Große Mutter“ für eine kulturübergreifende Interpretation im Sinne einer „ökospirituellen“ neureligiösen Auslegung, die die Erde als Verkörperung der Magna Mater oder als Mutter Erde auffasste. Diese Interpretation verbindet er in Europa auch mit der Megalithkultur auf Malta zwischen 4500 und 1500 v. Chr., deren steinerne Bauwerke als Tempel der Großen Göttin gedeutet werden. In den megalithischen Tempelanlagen von Tarxien, Ħaġar Qim und im Hypogäum von Ħal-Saflieni wurden androgyne und weibliche Statuetten, darunter die Venus von Malta, die Sleeping Lady und die fat lady gefunden. Ehmer interpretiert sie als kleine Darstellungen der Muttergottheit. Auf die Méter megále sollen auch sämtliche Erdgöttinnen der Alten Ägäis wie zum Beispiel Rhea, Gaia, Demeter und Persephone zurückgehen.

Erste Ansätze zu neuheidnischen/naturreligiösen Bewegungen (Neopaganismus) gab es auch schon im 18. und frühen 19. Jahrhundert, also vor Ehmers Buch „Göttin Erde“ (1994), gewissermaßen als Gegenentwurf zur rationalistischen Weltsicht der Aufklärung. In den 1970er Jahren wurde die Vorstellung von einer Ur- oder Allmutter, die man der Erscheinung der Großen Göttin zurechnet, aufgenommen, um sogenannte ganzheitliche Ansätze zur Erfassung der Erde als einem eigenen Wesen zu beschreiben: im Wicca, in ökospirituellen und ökofeministischen Bewegungen, im spirituellen Feminismus und in Matriarchatstheorien.

Soweit die Historie der wissenschaftlichen Details, die zum Umfeld der Urmutter-Göttin dazugehört, wie sie ähnlich auch bei Wikipedia und anderen Sammlungen zu finden ist. Sie geht schwerpunktmäßig von der Archäologie und der Sprachforschung aus. Die Fülle an neuem Material, Hinweisen, Überblicken, Erkenntnissen und erhellenden Querverbindungen zu anderen Bereichen der Kultur und Wissenschaft hat auch bei Wikipedia noch nicht vollständig Eingang gefunden.

Doch nun wird es komplizierter: Für jede wissenschaftliche These über den Ursprung der Großen Muttergottheit und ihrer Verbindung zu späteren Göttern oder Fabelwesen der Märchen und Sagen (z. B. Frau Holle, Waldminchen u. a.) finden sich Anhänger wie Gegner. Das bedeutet, dass jeder Versuch einer ganzheitlichen Zusammenschau aus einem der wissenschaftlichen oder weltanschaulichen Lager mit „Störfeuer“ und lautem Schmähen, wie: „Unwissenschaftlich! Unbewiesen! Fantasie!“ zu rechnen hat.

Jeder Forschende, der sich für das Thema „Große Mutter“ interessiert und zu recherchieren beginnt, wird zwangsläufig mit Ansichten, die ihm bis dato unbekannt waren oder vernachlässigbar erschienen, konfrontiert und darauf hingewiesen, dass er diese selbstverständlich erst zur Kenntnis nehmen müsse, bevor er mitreden könne. Da es sich bei solchen „Ansichten“ zumeist um Fachbücher ziemlichen Umfangs handelt, müsste der Forschende Wochen und Monate damit zubringen, diese Fachliteratur zu sichten, um sie entweder dem eigenen Kenntnis- und Erfahrungsschatz beizufügen oder sachgerecht dagegen argumentieren zu können. Ob er diesen Prozess noch zu Lebzeiten bewältigt, ist ungewiss.

Zudem ist nicht einzusehen, warum ein sorgfältig erarbeitetes Weltbild durch einseitig fachspezifische Details immer wieder von neuem gekippt und durcheinander gewürfelt werden sollte. Jede Forschung bedarf einer gewissen Fülle an faktischen Puzzleteilen, um zu einem stimmigen Bild zu gelangen. Hat sie ein solches aber entworfen, wird sie damit leben können und müssen – und die Andersdenkenden darum herum auch. Überdies war vorhersehbar, dass derart verschiedene Wissenschaftszweige wie Geschichte, Archäologie, Ethnologie, Linguistik, Soziologie, Mythologie-Forschung und etliche andere nicht nur zu verschiedenen Ergebnissen, sondern auch zu verschiedenen Weltbildern gelangen würden, da sie auch schon von solchen ausgingen.

Aus der Zeit vor dem 3. Jahrtausend v. Chr. liegen uns zwar keine schriftlichen Zeugnisse mehr vor, weil die Schrift erst ab etwa 3000 v. Chr. entstand, doch fand man stattdessen in dem Bereich zwischen Balkan, Donau und heutiger Ukraine, einem Gebiet, das die Archäologin Marija Gimbutas als Alteuropa bezeichnete, Tausende von Statuetten aus verschiedenen Zeiten, die durch Brüste, Schamdreieck und teilweise überbreite Hüften gekennzeichnet sind. Männliche Darstellungen befanden sich nur ganz vereinzelt darunter. Insgesamt kann man von über 20.000 weiblichen Statuetten innerhalb der Jungsteinzeit ausgehen! Solche wurden auch in Anatolien, unter anderem in der jungsteinzeitlichen Großsiedlung Çatalhöyük gefunden, wo sie noch dem 8. vorchristlichen Jahrtausend zugeordnet wurden.

Kopfzerbrechen bereiten eben nur jene direkt vergleichbaren Figuren, die geschichtlich sehr viel weiter zurück, bis etwa 500 000 oder gar 600 000 v. Chr., datiert werden müssen, denn diese scheinen ja nun doch zu belegen,

dass die Kultur der Großen Mutter sehr viel älter ist als die ursprünglich angenommenen 8000 Jahre von 10 000 bis 2000 v. Chr.; und

dass die Dauer einheitlicher Kulturimpulse eben doch wesentlich länger bestanden haben könnte als erwartet.

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Abb. 6
Höhlenmalerei aus Lascaux, Frankreich, 17 000-15 000 v. Chr.

Zurück zur Magna Mater selbst: Sie war eine vielseitige Göttin und zeigte die folgenden drei Aspekte:

1.) Ihr weißer Aspekt war die Braut oder jungfräuliche Jägerin, deren Regentschaft von März bis Juni währt;

2.) Ihr roter Aspekt war die Mutter oder Herrin, die zwischen Juli und Oktober regiert;

3.) Ihr schwarzer Aspekt war die Alte oder Ahnin, deren Zeit von November bis Februar reicht.

1.) Die liebliche Braut oder Jägerin tritt im weißen Blütengewand des Frühlings in Erscheinung und steht den germanischen Göttinnen Ostara (der Tochter Jörds) und Freya (der Tochter Njörds) nahe. Sie ist Liebesgöttin, aber auch Göttin der Jagd.

2.) Die gütige Mutter oder Herrin tritt im Reifen und Fruchten der Ernten in Erscheinung. Sie verschenkt in immerwährendem Opfer ihre eigene Substanz, die Materie, an ihre Kinder. In der germanischen Mythologie tragen die Göttermutter Frigga (Odhins Gemahlin) und Jörd (die Mutter von Thor und Ostara) Züge von ihr.

3.) Die unheimliche Alte oder Ahnin hat mit dem Sterben und Vergehen zu tun, mit der dunkelsten Zeit des Jahres. Sie war stets die Unheimliche, Gefährliche, weil man ihre Schicksalsgaben fürchtete, nämlich Krankheit, Elend, Not und Tod. Sie greift strafend und korrigierend in unser Leben ein, und was sie uns zuteilt, ist nicht immer leicht zu ertragen. Doch sie ist nicht nur Herrin über Geburt und Tod, sondern es liegt auch das Mysterium von Tod und Wiedergeburt in ihren Händen. In der germanischen Göttersage kommt ihr allenfalls Hel, die Herrin der Unterwelt nahe (s. „hell“ und „heil“!), die aber schon patriarchal dämonisiert ist (s. „Hölle“!).

Die Beziehung der Dreieinigen Mutter zum Phänomen der Zeit kann wieder an die drei Nornen der germanischen Mythologie erinnern, die den Faden der Zeiten und des Schicksals spinnen, nur ist die „Große Mutter“ umfassender als die drei Thursinnen der Edda. Braut, Mutter und Alte weben, gestalten und begleiten drei entscheidende Kapitel des menschlichen Lebens, die jeden Heranwachsenden seit Jahrtausenden beschäftigen, die Fragen nach

GEBURT, LEBEN/LIEBEN und TOD.

Riesige Monumente, Tempel, tempelähnliche Anlagen, Steinsetzungen, Hügelaufschüttungen, Zeichnungen auf Höhlenwänden, geschnitzte und geschlagene Figuren mit den charakteristisch gestalteten Bildern der Großen Mutter und andere Relikte aus der Vergangenheit künden von der ehemals gewaltigen Verbreitung dieser Anschauung.

Als chthonische Erdmutter, Mutter Erde, als astrale Himmelsgöttin im Zeichen der Sonne, des Mondes und der Venus, und auch als Allgebärerin der Erde und des Weltalls brachte sie die Wesen und Dinge zur Erscheinung, durchdrang und hegte sie als „gute Mutter“, bis sie irgendwann von den neuen Göttern einer späteren Zeit aus dem Götterhimmel gedrängt wurde und in Vergessenheit geriet.

Reste alter Mutter-Kulturstätten finden sich oft noch auf Inseln: in Großbritannien, Irland, auf Sardinien, Malta, Sizilien, Kreta und anderen; außerdem entlang der Küsten, und die Flüsse und Ströme landeinwärts. Die ihr geweihten Stätten lagen an heiligen Gewässern: an Seen, Bächen, Flüssen oder Quellen und Brunnen. Viele spätere christliche Marien-Gedenkstätten wurden auf den Trümmern jener alten Mutter-Heiligtümer errichtet.

Es war einmal, so könnte man im Märchenstil einleiten, eine göttliche Urmutter, welche nach und nach die ganze Welt und alle ihre Wesen gebar. Diese Urmutter war natürlich unsichtbar, wie Götter das so sind, und auch ihre Kinder waren anfangs immateriell. Mit zunehmendem Alter wurde alles das, was wir später „Erde“ oder Materie nennen, immer dichter und fester und „kristallisierte“ sich schließlich vom Immateriellen ins Materielle hinein aus. Jetzt gab es zwei Welten:

a) die Anderswelt, wie sie im gälischen Irland genannt wird, die wir heute Jenseits oder Himmel nennen,

b) und die Erdenwelt, dazumal wohl noch glutförmig, die nach und nach abkühlte, bis sie zuerst gasförmig, dann flüssig und zuletzt fest war.

Wie viele Jahrtausende der Prozess des Erkaltens und Schrumpfens dauerte, sei dahingestellt. Als die Erde sich irgendwann genugsam verdichtet und abgekühlt hatte, trat die niederste Lebensform der Naturreiche ins Dasein, indem sie sich in ein „Gewand aus Erde kleidete“ und so als materielle Pflanzenwelt die Erde besiedelte. Damit entstand die Lebensgrundlage für das beseelte Tierreich und dieses trat auf die nämliche Weise in Erscheinung, indem es sich mit einem stofflichen Leib, der mütterlichen Materie umgab.

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Abb. 7
Höhlenmalerei aus Lascaux, Frankreich 17 000-15 000 v. Chr.

Wie auch heute noch, brauchte der Mensch für seine leibliche Entwicklung am längsten. Heute durchläuft er im Mutterleib nach dem Biogenetischen Grundgesetz in aller Ruhe die Ei-, Pflanzen- und Tierstufe, bis er morphologisch beim Menschen ankommt.

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Abb. 8
Höhlenmalerei aus Lascaux, Frankreich 17 000-15 000 v. Chr.

Etwa neun Monaten nach der Befruchtung des Eies wird der Mensch geboren und auch da ist er noch kein „Zeitgenosse“, sondern erst einmal Säugling, und das gründlich und lange. Von der Geburt an ist seine Entwicklung zwar gut sichtbar und erlebbar, braucht aber weitere 14 Jahre, bis er „erdenreif“ wird und sich fortpflanzen kann. Bis er schließlich mündig ist, vergehen dann noch einmal sieben Jahre.

Was hat das alles mit der Großen Mutter zu tun? Eine ganze Menge: Man kann nicht von der „Mutter“ sprechen und das, was sie zu einer solchen macht, ignorieren. Vor allem aber ist in diesem mythologischen Mutter-Kind-Verhältnis der Grundstein für alle die mythologischen „Erinnerungen“ gelegt worden, welche die Menschheit an die Große Mutter bewahrte, und diese Erinnerungen überdauerten immerhin Tausende von Jahren! Es bedurfte erst des Einfalls der patriarchalisch orientierten indoeuropäischen Völkerscharen, um die Erinnerungen an die Urmutter-Göttin allmählich zu zerstören. Und doch blieb auch dann noch so viel davon erhalten, dass es bis heute zur Rekonstruktion einer eigenen Mythologie hinreicht, der Mythologie der Großen Mutter.

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Abb. 9
Höhlenmalerei aus Altamira, Spanien 17 000-15 000 v. Chr.

3. Die Dreieinigkeit

Doch zurück zur Urmutter. Es mag überraschen, dass die Dreieinigkeit im Christentum keine christliche Errungenschaft, sondern ein Plagiat ist. Sie wurde, wie so Vieles, von einer früheren Kultur übernommen. Die Schattenseite dieses „Raubes“ ist, dass die Trinitas aus Vater, Sohn und Heiligem Geist künstlich oder ausgedacht wirkt, während sie im Zusammenhang mit der Großen Mutter, woher sie ursprünglich stammt, harmonisch und natürlich erscheint und im vollen Einklang mit Natur und Wirklichkeit steht: Wie die Göttin, so kommt auch die Menschenfrau in drei Erscheinungsformen vor:

als Mädchen oder Jungfrau,
als reife Frau oder Mutter,
als Alte oder Ahnin.

Ferner finden wir beim Menschen folgende Dreiheiten:

Kopf, Leib, Glieder;
Körper, Seele, Geist;
Mädchen, Frau, Greisin;
Junge, Mann, Greis;

an der außermenschlichen Natur: Tier, Pflanze, Mineral;

an der belebten Natur:Pflanze, Tier, Mensch
am Raum:Höhe, Breite, Tiefe;
an der Zeit:Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft;
  
am Menschenleben:Geburt, Leben/Lieben, Tod;
an den „Gezeiten“ des Menschenlebens:Tag u. Nacht, Sommer- u. Winterhalbjahr, Leben u. Tod;
  
am Wasser:Eis, Wasser, Dampf;
am Feuer:gelbrote Lichtflamme, blaue Heizflamme, rote Glut;

und an vielen weiteren Naturerscheinungen. Bei der Göttin haben diese drei Aspekte die folgenden Namen:

Die Braut oder Jägerin, auch die Weiße Göttin genannt;
die Herrin oder Mutter, auch die Rote Göttin genannt;
die Alte oder Ahnin, auch die Schwarze Göttin genannt.
Sie alle zusammen sind die Große Mutter (Magna Mater).

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Abb. 10
Magna Mater Kybele

Die Dreieinigkeit ist also keine Errungenschaft des Christentums. Was der Kirche an anderen Kulturen, an Brauchtum, Symbolen und vorhandenen Festeszeiten und -formen passend erschien, wurde übernommen.

Doch bevor es sich aus der kulturellen Schatztruhe der Vergangenheit bedienen konnte und die fremden Kulturgüter mehr oder weniger verändert übernahm, taten solches auch schon die Vorgänger-Kulturen selbst. Beginnen wir bei den Germanen: Obzwar diese die vorausgehende Kultur der Großen Mutter bekämpften, übernahmen sie doch von ihr etliche Anschauungen, manche unverändert, andere der eigenen Kultur angepasst. So finden wir lange vor der christlichen Zeitenwende die Dreieinigkeit

der göttlichen Brüder Odhin, Wili und We, die später zu Odhin verschmolzen.

Weiterhin finden wir ab etwa 2000 v. Chr.:

im Griechischen die Göttin Demeter, die ursprünglich sogar „Die Göttinnen“ und in Dodona Die Drei, andernorts Die Mutter oder Die Weise der Erde genannt wurde. Sie ist die Göttin der Erdfruchtbarkeit, später des Ackerbaus, zu deren Ehren die Thesmophorien nach Bestellung der Wintersaat gefeiert wurden, ein Frauenfest, von welchem die Männer ausgeschlossen waren. Auch in den drei Aspekten Braut (Persephone oder Kore), Mutter (Persephones Mutter Demeter) und Alte (Hekate, Persephones Großmutter) zeigt sich der Zusammenhang zur vorausgehenden Zeit der Großen Mutter.

Persephone sollte auf Beschluss der Götter, aber ohne Demeters Wissen und Zustimmung mit Hades, dem Gott der Unterwelt vermählt werden. Hekate, Kores Großmutter, wusste davon, ließ es aber geschehen, weil sie die Notwendigkeit dieser Verbindung erkannte. Als das Sommerhalbjahr zu Ende ging, wurde Persephone von Hades geraubt und in die Unterwelt verschleppt. Ihre Mutter suchte überall verzweifelt nach ihr, konnte sie aber nicht finden. Durch Demeters Schmerz getroffen, hörten die Pflanzen überall auf der ganzen Erde auf, zu wachsen und verdorrten, und Tiere und Menschen starben. Da berieten sich die Götter und beschlossen, dass Persephone fortan nur noch im Winterhalbjahr bei ihrem Gemahl in der Unterwelt verbringen sollte, die übrige Zeit durfte sie zur Erde zurückkehren.

Im Indischen begegnet uns die Trimurti (Dreieinigkeit) von Brahma, Vishnu und Shiva. Auch hier sind die Göttinnen bereits zu Göttern geworden.

Im Keltischen finden sich gleich mehrere Dreieinigkeiten, am bekanntesten ist wohl die der Kriegs- und Rachegöttin Morrígan. Aber auch im Walisischen begegnet uns eine dreieinige Cerridwen, gelegentlich in Gemeinschaft mit Rhiannon und Modron.

Schon die dritte nachatlantische Kulturperiode zwischen 3000 und 1000 v. Chr. mit den Hochkulturen Ägypten und Zweistromland kannte die göttlichen Triaden:

in Ägypten: Amun, Re und Ptah.

in Babylonien: Nimrod, Semiramis und Tammuz.

in Sumer: Nanna-Sin (Mond), Utru (Sonne) und Innana (Venus).

Im Germanischen finden wir überdies eine Besonderheit, die uns auf die Mischform von alter und neuer Anschauung aufmerksam macht: Die drei Nornen waren Riesinnen aus dem Thursen-Geschlecht. Auffällig ist, dass zwar die Asengötter in ständiger Feindschaft mit den Thursen lebten und der Donnerer Thor jeden Morgen in den Kampf gegen sie zog, andrerseits die drei „Thursenweiber“ am Ende des Goldenen Zeitalters den Asen geboten, die Zwerge (als Vorläufer des Menschengeschlechts) zu erschaffen. Damit zeigten die Nornen sich mit einem Mal mächtiger als die Götter, und das widerspricht der dominanten Stellung der Asen im damaligen Götterkosmos.

Die Nornen halten die Schicksalsfäden in Händen und gebieten über Raum und Zeit: Urd über die Vergangenheit, Verdandi über die Gegenwart und Skuld über die Zukunft. Wie die Dreieinige Mutter in früherer Zeit eine besondere Beziehung zu den Gewässern der Erde hatte, so lebten auch die Nornen an einer Quelle, Urds Brunnen genannt. Dort zogen singende Schwäne über das Wasser. Mit ihren Händen schöpften die Nornen morgens und abends das lebenspendende Nass und besprengten die Weltenesche Yggdrasil, damit deren Zweige nicht verdorrten und „der Tau in den Tälern fällt.“

Die weißen Vögel der Nornen (hier die Schwäne) tauchen dann Jahrhunderte später (erstmals 1641 n. Chr.) als die weißen Vögel der Magna-Mater-Nachfolgerin Frau Holle auf, die ebenfalls einen See bewohnt (Hollenteich auf dem Hohen Meißner). Deren Vögel sind „die Störche, die die kleinen Kinder bringen“:

Storch, Storch, Guter,
Bring mir einen Bruder!
Storch, Storch, Bester,
Bring mir eine Schwester!

Um mit den Bildern aus Mythologie, Sagen und Märchen umgehen zu können, dürfen dieselben allerdings weder fragmentarisch angewendet noch wörtlich gedeutet werden. Bei den weißen Vögeln handelt es sich um Wesen zwischen Himmel und Erde, deren Farbe auf die Anderswelt hindeutet. Aus demselben Grund wird Frau Holle auch mit dem Schnee assoziiert. Diese geflügelten Wesen bringen „die Kinder“ (also Seelen) vom Himmel auf die Erde. Viele Frau-Holle- und Frau-Perchta-Sagen handeln ja gerade von den „Heimchen“, den Seelen derer, die im folgenden Jahr zur Erde kommen. Bezeichnenderweise trägt der Storch auch noch die Farben der Mutter, Weiß, Rot und Schwarz.

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Abb. 11
Ältere Darstellung der drei Nornen

4. Der Kampf gegen die Göttin

Ein Blick auf die Geschichtstabelle zeigt, dass von den allerfrühesten Zeugnissen, die auf die Große Mutter hindeuten, also von etwa 600 000 v. Chr. bis weit in die Jungsteinzeit hinein (etwa um 7000 v. Chr.), Jahrtausende vergehen, während welcher der Götterhimmel von einer einzigen Göttin bewohnt zu sein scheint. Das änderte sich nicht grundlegend, als um 7000 v. Chr. die ersten patriarchalen Gesellschaftsstrukturen in Form von Hierarchien auftraten. Letzteres manifestierte sich an den Herrschergräbern mit ihren besonderen Beigaben. Erst ab etwa 3300 v. Chr. gesellten sich zur Großen Mutter weitere Göttinnen und erste Götter.

Etwa 6000 v. Chr. geht die Arbeit an der Erde, die bis dahin Domäne der Frauen gewesen war, in Männerhand über; doch 4500 v. Chr. zeigen Herrschergräber im heutigen Bulgarien (Warna) noch immer neben Funden an Kupferwaffen und dem ersten Goldfund auch eine Abbildung der Muttergottheit.

Als in der Bronzezeit, um 3300 v. Chr. erste männliche Vegetationsgötter auftauchen (Ea/Enki in Mesopotamien, Dumuzi in Sumer, Min/Osiris in Ägypten), regierte die Große Mutter nur noch in Gestalt regionaler Göttinnen wie Nammu, Nut oder Isis mit. Das änderte sich erst ab 1100 v. Chr., wie uns das babylonische Weltschöpfungsepos Enuma Elish mit dem Kampf Marduks gegen die Göttermutter Tiamat zeigt. In Abbildungen wird dieser Kampf auch als Kampf des jugendlichen Heros gegen den Drachen dargestellt.

Ab dem Herrschaftsbeginn der patriarchal orientierten Völker füllte sich der Götterhimmel nach und nach mit neuen Göttinnen und Göttern, wobei die letzteren als „Väter“, „Fürsten“ oder „Ehemänner“ allmählich die Herrschaft über die Göttinnen erlangten. Die Große Mutter wird da schon bekämpft und schließlich gestürzt, doch auch die jüngeren Göttinnen werden von den männlichen Göttern allmählich in den Hintergrund gedrängt. Zuletzt, in Ägypten schon um 1500 v. Chr., schwingt sich der Gott Aton zum Alleinherrscher auf und stürzt seine männlichen Mit-Götter: Der Monotheismus ist geboren.

Erst um 650 v. Chr. setzte sich die monotheistische Anschauung auch im Judentum durch und erst ab dem 6. Jahrhundert n. Chr. folgte die Christianisierung Mitteleuropas. Als letztes erscheint im 7. Jahrhundert dann noch der Islam.

Die Menschengemeinschaften spiegelten in ihren Sozialformen die religiösen Anschauungen wider: Nach der matrifokalen Urzeit treten uns zunächst Mischformen aus matrifokaler Zeit und Vorläufern des Patriarchats entgegen, etwa, wenn die männliche Herrscherwürde schon vorhanden, aber allein durch die königliche Gemahlin legitimiert ist, wie z. B. in Ägypten oder im Zweistromland.

„Die Göttin Ishtar liebte mich – so wurde ich König“, sagt Sargon von Assyrien noch im 8. Jahrhundert v. Chr. Ähnlich bei den babylonischen Königen, die jedes Jahr vor der Thronbesteigung in öffentlicher Zeremonie die „Heilige Hochzeit“ (Hierogamie) mit der Hohepriesterin der Großen Mutter vollzogen. Bei den keltischen Iren musste der König die „Ehe mit der Göttin des Landes“ eingehen um auf den Thron zu gelangen.

Was aber beendete um etwa 2000 v. Chr. in Europa die Ära der Großen Mutter? In jener Zeit, welche heute die „Bronzezeit“ genannt wird, passierte etwas so Fürchterliches, dass es die Kinder der Großen Mutter in Angst und Schrecken versetzte: Wilde Männer, zu Horden zusammengeschlossen, fielen in die Gemeinschaften der Urbevölkerung ein, wie Wölfe in eine Schafherde. Sie waren gewalttätig und sie setzten „Jagdgerät“ als Waffen gegen Menschen ein. Kampfverliebt und streiterprobt stießen sie in die friedlichen Lager oder Siedlungen der Kinder der Mutter vor, töteten Männer, Knaben und Alte und nahmen sich die Töchter und Frauen zur Beute. In anderen Gegenden verlief die Landnahme weniger blutig, aber auch dort wurde die Urbevölkerung unterworfen.

Die Horden der fremden Krieger wurden nach und nach immer größer, ihre Überfälle zahlreicher. Ganze Heerzüge durchstreiften plündernd, mordend und ihre wilde Kraft und Macht genießend durch das Land. Später nannte man diese Landnahme-Züge die „indogermanische Völkerwanderung“. Die patriarchalisch orientierten Indogermanen unterwarfen dabei die Urbevölkerung, machten sie sich Untertan, versklavten oder töteten sie. Sie ehrten fremde Götter mit männlichen Gottheiten, die als „Väter“ oder „Fürsten“ den Götterkosmos beherrschten, und auch diese waren versessen auf Kräftemessen, Kampf und kriegerische Auseinandersetzung. Kampf war Lust, Leben und Religion, und der überschäumende Mut des Kriegers eine Tugend. Ein Volk, das nicht kämpfte, war verachtenswert, seine Religion „weibisch“, also schwächlich. Einige Völker der Mutter zogen sich in die Einöden zurück; die meisten aber verloren ihre Freiheit.

Doch die Große Mutter liebt alle ihre Kinder, auch die wilden, ungebärdigen. Und wehrlos ist die Göttin wahrlich nicht. Um die großen Landflächen mit der unterworfenen Urbevölkerung beherrschen und mit der eigenen Kultur verschmelzen zu können, fehlte den Eroberern anzahlmäßig die Möglichkeit; dazu hätte es einer größeren Besatzungsmacht bedurft, die auch sesshaft hätte werden müssen, um die Unterworfenen zu integrieren. So aber bildeten die Kriegerscharen stets nur eine dünne Herrschaftsschicht über die Völker der Mutter. Und nicht selten zogen sie, von Abenteuerlust getrieben, nach einiger Zeit weiter und neuen Eroberungen entgegen. Außerdem wuchsen mit den erbeuteten Frauen, die zu Gattinnen oder Nebenfrauen geworden waren, gemeinsame Kinder heran. Dabei flossen offenbar alte Vorstellungen und Bräuche mehr oder weniger heimlich in die Erziehung der Kinder, in Feste, Bräuche und Anschauungen mit ein – ein weiterer Grund, warum wir später überhaupt noch Elemente der alten Mutter-Kultur in den indogermanischen Mythologien finden.

Doch auch in anderen Teilen der Erde begann nach einer paradiesischen Urzeit unter der mütterlichen Obhut der Göttin eine zunehmend gewalttätige Verfolgung dieser Urmutter und „ihrer“ Geschöpfe, wozu sich die Männer charakteristischerweise nicht zählten: In ihrer Weltsicht gab es einen klaren Unterschied zwischen Männerwelt und Frauenwelt.

Diese Polarität bildete sich heraus, als die Sonne, ehedem das „Herz der Großen Mutter“, von den Männern für männlich erklärt und damit ein künstlicher Gegensatz von Sonne und Mond geschaffen wurde. War das Tagesgestirn Sonne zum Manne gehörig, so das Nachtgestirn Mond zwangsläufig zur Frau. Damit bildeten sich ganze Cluster von zu Sonne und Mond gehörigen Bereichen, die als männlich oder weiblich anzusehen waren: Dem Manne eignete hinfort nur noch die helle, geformte Seite der Welt mit Sonne, Tag, Form, Festigkeit, Kraft, Initiative, Durchsetzungsvermögen, Feuer u. a.; der Frau nur noch die dunkle Seite der Welt mit Nacht, Mond, Formlosigkeit, Weichheit, Schwäche, Unentschiedenheit, Wasser, Nachgiebigkeit u. a. Eine Männerwelt stellte sich der Frauenwelt drohend gegenüber.

In ihrem Buch „Weltgeschichte der Frau“ schreibt Rosalind Miles: „Der Dualismus von Sonne und Mond wurde nun zu einem kosmischen System polarer Gegensätzlichkeit aufgebläht: Was der Mann ist, kann die Frau nicht sein … Das wurde begleitet vom Glauben an die männliche Überlegenheit. Der Mann besitzt alle menschlichen Fähigkeiten, die Frau ist nur etwas Halbes, sein formloses Gegenteil.“

Doch die neu geschaffene Polarität wurde nicht als Naturphänomen stehengelassen, sondern die weibliche Seite als unmännlich, unrichtig, unheilig, ja feindlich erlebt und bekämpft. Der Kampf gegen die Große Mutter weitete sich aus zum Kampf des strahlenden Sonnenhelden gegen die finsteren Dunkelmächte. Im Schöpfungsmythos der zentralafrikanischen Tiwi heißt es: