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Österreichische Musikzeitschrift – Ein europäisches Forum – Herausgegeben von der Europäischen Musikforschungsvereinigung Wien Jahrgang 71/2016 Heft 5 – Die Sieben Todsünden

Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ) | Jahrgang 71/05 | 2016

Erscheinungsweise: zweimonatlich

Medieninhaberin: Europäische Musikforschungsvereinigung Wien (EMV)

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Liebe Leserinnen und Leser,

die Angst vor einem göttlichen Sündenregister, das all unsere Fehltaten und Verirrungen auflistet, hat der moderne Mensch – zumal in der westlichen Welt – längst abgelegt. Ironischerweise gibt es aber längst eine andere Instanz, die unser Tun kaum gnädiger überwacht und dokumentiert und darum vielen ein diffuses Unbehagen bereitet: das Internet. Während wir uns also permanent fragen, wer eigentlich welche Informationen über uns hat und wie sie zu unserem Schaden verwendet werden könnten, hatten es unsere Vorfahren leichter. Ihnen war immerhin klar, wer sie beobachtete: das Auge Gottes. Hieronymus Bosch, dessen Todestag sich heuer zum fünfhundertsten Mal jährt, hat es in seinem Gemälde Die Sieben Todsünden dargestellt. »Cave cave deus videt«, zu Deutsch »Hüte dich, hüte dich, Gott sieht [es]«, lautet die Inschrift unterhalb der strahlenumkränzten Pupille, aus der der Heiland den SünderInnen entgegenblickt. Um ihn herum hat der Maler jene Vergehen, die es zu vermeiden gilt, in einem Rad abgebildet, das auch auf die Weltkugel anspielt: Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit – die Sieben Todsünden.

Die Sorge, von Gott für die eigenen Übertretungen bestraft zu werden, mag verschwunden sein, nicht aber die Todsünden selbst – im Gegenteil: Sie prägen unsere Welt. Hiervon zeugen etwa der Hochmut eines Donald Trump, die Gier des Apple-Konzerns oder die Zerstörungswut terroristischer Milizen.

In den Sphären der Musikgeschichte geht es glücklicherweise weniger bedrohlich zu. Die Todsünden aber haben auch hier seit jeher prächtige Blüten getrieben. Ihnen verdanken wir Figuren wie den Zornbinkel Osmin aus der Entführung und den Wollüstling Scarpia aus Tosca, aber auch Kuriosa wie Joseph Haydns Lob der Faulheit, das Tanzstück Schlagobers von Richard Strauss, das dem Zuschauer sogleich das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt, und natürlich das berühmte Ballett Die sieben Todsünden von Bertolt Brecht und Kurt Weill. Neidischen Sängerinnen, hochmütigen Komponisten und verfressenen Stars ist dieses Heft gewidmet. Dass Christian Gerhaher uns für ein ausführliches Interview zu diesem Thema zur Verfügung stand, freut uns ganz besonders.

Einen Seitenblick auf die Auswüchse der Todsünden in anderen Bereichen der Kunst wirft Hartmut Krones in seinem Beitrag über die Dadaisten. Vor genau einhundert Jahren legten sie mit der Eröffnung des Cabaret Voltaire in Zürich den Grundstein zu einer Kunstrichtung, deren Wirkung und Faszination bis heute anhält.

Also: Kochen Sie sich eine gute Tasse Heiße Schokolade, am besten mit viel Schlagobers, und gönnen Sie sich ein paar faule Stündchen mit der Lektüre dieses Heftes.

Eine kleine Sünde ist diese Ausgabe der ÖMZ schon wert … › Die Redaktion

Inhalt

Die Sieben Todsünden

Armin Thurnher: Todsünde

Johannes Streicher: Vom Oratorium zum Ballett Die Sieben Todsünden bei Goldschmidt, Weill, Malipiero und Veretti

Jörg Handstein: Vom erregten Stil zum Affektmord Wie der Zorn Musikgeschichte schrieb

Christian Heindl: Es geht doch nichts über den Scarpia! Wenn Wollust Musik (er)leben lässt

Bertolt Brecht/Kurt Weill: Die Ballade von der sexuellen Hörigkeit

Johannes Prominczel: Von Kochbüchern und anderen Sau(f)ereien Völlerei in aller Munde

Monika Woitas: Eine Schlemmerorgie in Zeiten der Wirtschaftskrise Schlagobers (1924) von Richard Strauss

Vor dem Fall Christian Gerhaher über den Hochmut im Gespräch mit Judith Kemp

Markéta Štědronská: »… und keine Götter auf Erden seien neben ihm.« August Wilhelm Ambros’ Kritik an der zeitgenössischen Glorifizierung Richard Wagners

Johannes Leopold Mayer: Lob der Faulheit Joseph Haydns Abrechnung mit einer Todsünde

Magdalena Zorn: Erotik des Rückzugs Zur Topik des Geizes in der Musik Anton Weberns

Daniel Brandenburg: »Ich bin die erste Sängerin« Neid und Rivalität auf der Opernbühne

Hartmut Krones: »Dada ist der sittliche Ernst unserer Zeit« Vor und seit 100 Jahren: Dada-Kampf gegen die Todsünden

Nachrufe

Frieder Reininghaus: Péter Esterházy

Marion Diederichs-Lafite: Gladys Nordenstrom Krenek

Fokus Wissenschaft

Reinhard Strohm: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich

Extra

Frieder Reininghaus: 40 Jahre Schubertiade in Vorarlberg

Berichte

Kultursommer

Lucerne Festival im Sommer (Katharina Thalmann)

Festival d’Aix-en-Provence und Glucks Alceste bei der Ruhrtriennale (Frieder Reininghaus)

Kolonovits El Juez in Wien (Christian Heindl)

Styriarte (Ulrike Aringer-Grau)

Kammermusikfest Lockenhaus (Marcus Stäbler)

Tiroler Festspiele Erl (Judith Kemp)

Carinthischer Sommer (Willi Rainer)

Von Einems Jesu Hochzeit beim Carinthischen Sommer (Frieder Reininghaus)

Innsbrucker Festwochen der Alten Musik (Jutta Höpfel)

Bregenzer Festspiele (Anna Mika)

Adès The Exterminating Angel bei den Salzburger Festspielen (Christoph Schmitz)

Musiktheatertage Wien (Juri Giannini)

Sommertheater (Judith Kemp und Johannes Prominczel)

Schreiers Hamlet in Wien (Jörn Florian Fuchs)

Rezensionen

BÜCHER

CDs

Das andere Lexikon

Der Faulenzer (Wolfgang Fuhrmann)

News

Aus dem Sündenpfuhl

Zu guter Letzt

Der neue Absolutismus und andere lässliche Sünden (Frieder Reininghaus)

Vorschau

THEMA

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Todsünde

Armin Thurnher

Der Begriff »Todsünde« erscheint in unserem täglichen Sprachgebrauch geradezu ubiquitär. Was beschreibt er aber wirklich?

Der Abwehrchef des Fußballclubs Borussia Dortmund wehrt sich gegen den Vorwurf, er habe eine Todsünde begangen, nämlich die, seinen Trainer zu kritisieren. Auch nach dem Vereinswechsel von Barcelona zu Dortmund war es ihm wichtig, klarzulegen, dass er das ihm zur Last gelegte »Delikt« keineswegs begangen habe. Denn in La Masia, der Fußball-Akademie von Barca, »bekommt ein junger Spieler nicht nur eine umfassende fußballerische Ausbildung, sondern wird auch darauf eingeschworen, dass es eine Todsünde ist, den Verein oder Trainer zu kritisieren«, berichtet die konservative Tageszeitung Die Welt.

Das gleiche Blatt schrieb wenige Tage zuvor über einen jungen Deutschen mit türkischen Wurzeln, der in einem Berliner Bezirk für die CDU kandidiert. »Für manche hier ist es leider eine Todsünde, für die CDU zu stimmen«, sagt der dem Blatt zufolge. Der Fernsehsender N24 berichtete von den Grill-Weltmeisterschaften der Profis, bei denen fertig mariniertes Fleisch als Todsünde gelte. Und die seriöse, der katholischen Weltanschauung nicht eben fernstehende Presse informiert uns über den Erfolg der Weltmarke Apple, der darin gründe, dass der Computer- und Smartphonehersteller es geschafft habe, Menschen emotional an sich zu binden. »Wir glauben, dass unsere Kunden unsere Seele sind. Menschen, die sich ineinander wiedererkennen. Menschen, die strahlen, ohne dabei im Rampenlicht zu stehen. Menschen, die daran arbeiten, diese Welt besser zurückzulassen, als sie sie vorgefunden haben. Leute die leben, um Leben zu bereichern«, das sei kein Auszug aus einem religiösen Manifest, sondern das von Apple aktuell überarbeitete Firmencredo. Und es werfe die Frage auf, ob das Unternehmen nun endgültig zur Sekte mutiert ist. Apple zu kritisieren, gelte als Todsünde, konstatiert die Autorin dieses Berichts und ruft tatsächlich dazu auf, diese zu begehen. Mehr: »Es ist an der Zeit zum Marken-Atheisten zu werden.«

Stilisierung des Zweitrangigen

Weiterer Beispiele bedarf es wohl kaum. Es ist, könnte man sagen, eine journalistische Todsünde, sich des Begriffs der Todsünde zu bedienen. Und sähen wir uns den Begriff der Sünde an, kämen wir zu einem ähnlichen Ergebnis, denn die Todsünde ist nur ein Spezialfall der Sünde. Sozusagen der einzige, welcher der Rede wert ist.

Die katholische Kirche, die diesen Begriff geprägt hat, bedient sich seiner noch, klagt aber wie wir über seine Inflationierung. Ihre Spitzen gebrauchen ihn je nach politischer Absicht. Der Papst bezeichnet zum Beispiel Formen des modernen Kapitalismus als Todsünde, die jene modernen Menschenhändler betreiben, welche ihre Arbeitssklaven ausbeuten, ohne soziale Absicherung und ohne Steuern zu zahlen. Das ist unmoralisches Verhalten, gewiss, und kann auch gegen Gesetze verstoßen. Aber was ist Sünde?

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Hans Baldung Grien, Die sieben Todsünden, Holzschnitt, Straßburg 1511, Kunsthalle Kiel.

Sünde bedeutet den Verstoß des Menschen gegen die vollkommene Ordnung, schrieb der Heilige Augustinus, sündenmäßig der erste Fachmann. Ihm zufolge muss sich der Mensch so bessern, dass er in diese Ordnung passt. Die Ursünde lässt ihn, was die Sache erschwert, seine Vollendung nicht in Gott, sondern in sich selbst suchen. Die Richtigkeit aber liegt also nicht in uns selbst, sondern in einem System außerhalb unserer selbst. Moderne Individuen mit ihrer Individualethik tun sich schwer, diesen Begriff der Sünde zu verstehen. Denn er ist nicht von dieser Welt.

Thomas von Aquin radikalisierte Augustinus. Das Vernunftwesen Mensch rebelliere gegen die göttliche Ordnung, meinte er. Thomas verschärfte die Sache, denn lässliche Sünden können sich zwar summieren oder eine Disposition zur Todsünde bringen, seien jedoch im Grunde nur menschliche Schwächen. »Das Erste gerät aus dem Blick, wird missachtet und verachtet, das Zweitrangige wird zum Erstrangigen stilisiert. Mit zunehmender Abkehr vom Ersten, dem lebendigen und lebensspendenden Gott, kommt ein Prozess zum Tod in Gang.«1 Kurz, man muss an Gott glauben, um die Sünde zu verstehen. Wer nicht an Gott glaubt, begeht sie ohnehin. Sünde ist Unglaube, wie immer man sie interpretiert. Wir, im Zeitalter des Egoismus aller Spielarten, können die Idee nicht verstehen, dass gerade im Vollzug dieses Egoismus sich die Abwendung von Gott zeige.

Beleidigung Gottes

Wenn wir den Kardinal fragen, was Sünde ist, erhalten wir eine Antwort, die von Thomas sein könnte. Christoph Schönborn ist als quasi Chefredakteur des geltenden Katechismus der katholischen Kirche wohl deren kompetenteste Auskunftsperson. In einer seiner Auslegungen befasst er sich umschweifig mit dem Begriff der Sünde: »Gibt es so etwas wie die ›tödliche Sünde‹ (so müssten wir den klassischen Begriff des peccatum mortale wörtlich übersetzen)? Die langen Listen aus Todsünden, die wir früher allzu leicht vorgesetzt bekamen, sind auch mit daran schuld, dass der Ernst der ›tödlichen‹ Sünde vielfach verloren gegangen ist. Auf jeden Fall ist für viele der Ernst der tödlichen Sünde wohl auch dadurch verloren gegangen, dass man so vieles und so vorschnell als Todsünde bezeichnet hat.« Aber es gibt es, das peccatum mortale, die tödliche Sünde. Schönborn warnt uns davor, lässliche Sünden zu bagatellisieren. Allein deren Summe sollte uns erschrecken machen. Wenn ich den Kardinal richtig verstehe, sagt er, wir könnten nicht begreifen, was Sünde wirklich bedeute, wir müssten es erfahren. Und die wahre Sünde sei mehr als nur Missachtung des Sittengesetzes; sie sei die Beleidigung Gottes. Nicht sein zu wollen wie er, sondern wie man selbst. Ich, ich, ich, absoluter Hochmut, superbia, so zeige sich die wahre Sünde.

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Selbst im Kühlregal sind die Todsünden allgegenwärtig. Was ein Eislutscher mit Eitelkeit oder Zorn zu tun hat, kann einem bestenfalls die Werbung erklären.

Dass die Herolde der Moderne von Nietzsche aufwärts an der Idee der Sünde gerade die Aufforderung zur Selbstverleugnung kritisieren, versteht sich. Wer aber dachte, die Moderne könne uns erlösen, der irrte kräftig. Die Konjunktur der Religion zeigt es. Die Idee, sofortige Erlösung durch Auslösung von Sprenggürteln zu erlangen, ist nur eine, extreme Form dieser Konjunktur. Die Terroristen sind einerseits höchst modern, weil sie die Erlangung des Paradieses mit einer Vorstellung von instant gratification verbinden, und andererseits höchst archaisch, weil dieses Paradies eben nicht von dieser Welt ist.

Fundamentalistischen Muslimen gilt übrigens auch das Hören von Musik zu Unterhaltungszwecken oder aus ästhetischen Gründen als Sünde. Bekanntlich fehlt es in literarischen Bildern der musikalischen Moderne nicht an Sündenanspielungen. Die berühmteste davon ist der Teufelspakt des Komponisten Adrian Leverkühn im Roman Doktor Faustus, in dem sich Arnold Schönberg von Thomas Mann porträtiert sah.

Aber Musik und Sünde, das will nicht recht zusammengehen. Denn gewiss ist ihr System nicht von dieser Welt und kann als eine Art Gottesersatz oder Ersatzgottesdienst angesehen werden; sie dient – und das mag Fundamentalisten stören – etwas, das wir nicht zu benennen wissen, vielleicht dem Absoluten. Wir können in ihr Vollendung finden, oder wir meinen es zumindest. Und doch ist sie nicht Gott. Die Rede von »Musikanten Gottes« und dergleichen kann uns das nicht einreden. Musik ist etwas anderes. Sünde ist sie keine.

Armin Thurnher ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur der Wiener Stadtzeitung Falter.

Anmerkung

Joachim Ritter u. a., Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, S. 604.

THEMA

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Vom Oratorium zum Ballett

Die Sieben Todsünden bei Goldschmidt, Weill, Malipiero und Veretti

Johannes Streicher

Kurt Weills und Bertolt Brechts Ballett Die sieben Todsünden ist zweifellos die bekannteste Komposition zu diesem Thema aus neuerer Zeit, nicht jedoch die einzige. Eine Spurensuche.

Lang und ergiebig ist die Tradition der künstlerischen Beschäftigung mit den Todsünden – literarisch wie auf den Feldern der bildenden Künste. Bis heute hält das Interesse an: 1996/97 war im Pariser Centre Pompidou eine Les Péchés capitaux betitelte Ausstellung zu sehen, 2004 zelebrierten u. a. Tracey Emin, Elke Krystufek sowie Muntean / Rosenblum mit vereinten Kräften die Seven Sins im Bozener Museion, 2007 wurde Alfred Kubins Zyklus von Lithographien zu diesem Thema in Murnau gezeigt, 2010/11 folgte eine dem Thema allgemein gewidmete Ausstellung in Bern, ebenso 2015 im Kloster Dalheim und 2016 in Augsburg. Das Kulturzentrum Sinsteden in Rommerskirchen widmete 2010 eine Ausstellung allein dem Neid. Das Projekt wurde 2012 und 2014/15 fortgesetzt und die Völlerei bzw. der Zorn unter die Lupe genommen.

Sind in den bildenden Künsten, der Literatur oder dem Film umfangreiche Werke einzelnen oder allen Sieben Todsünden gewidmet worden – von Albrecht Dürers Kupferstichen (um 1500) über Grimmelshausens Courasche-Roman (1670) bis zu Eugène Sues gleichnamigem siebenbändigen Roman-Zyklus (1847–1849), Franz Kranewitters siebenteiligem Einakter-Zyklus (1905–1925), Oliver Stones Wall Street-Filmen (1987, 2010) oder der Theater-Heptalogie des Argentiniers Rafael Spregelburd (ab 2000) –, so fällt auf, dass in der Musik oftmals weniger ausladende Gattungen bevorzugt wurden, um das Thema zu behandeln. 1933 präsentierte Kurt Weill in Paris ein knappes »ballet chanté«, die Aufführungsdauer von Gian Francesco Malipieros Kantate Li sette peccati mortali (1946) beträgt etwa eine Viertelstunde, Horst Lohses Orgelwerk Die sieben Todsünden (nach Hieronymus Bosch, 1989) beschränkt sich auf zwölf Minuten und Jean Balissats ebenfalls rein instrumentalen Sept péchés capitaux für kleines Ensemble (1994) umfassen nur wenige Seiten. Auch Gian Carlo Menottis Kirchenoper The Egg (Washington 1976) ist nicht abendfüllend, sondern vom Auftraggeber, der Kathedrale von Washington, als Pendant zu seiner früheren Church Opera Martin’s Lie (1964) gedacht.1

»Monstrewerk der Wagnerschule«

Die Todsünden inspirierten also vornehmlich Stücke mit begrenzter zeitlicher Ausdehnung – mit einer Ausnahme, einem »Monstrewerk der Wagnerschule«.2 Es stammt aus der Feder des Wieners Adalbert von Goldschmidt (1848–1906), eines Schülers von Friedrich Adolf Wolf. Auf Goldschmidts Anregung verfasste Robert Hamerling, (1830–1889), einstmals als Lyriker, Dramatiker und Romancier ein Erfolgsautor, im Jahr 1873 ein ausladendes »Gedicht« in drei Abteilungen, die den Kampf der Dämonen (der Trägheit, der Hoffart, der Habsucht, des Neides, der Völlerei, der bösen Lust und des Zornes) gegen die Mächte des Lichts schildern; neben dem Fürsten der Finsternis und der Fürstin der Scharen des Lichts treten Chöre von Dämonen, Pilgern, Kriegern, Festgenossen, Bacchantinnen, Priestern, den Stämmen der Menschheit sowie Symbolfiguren wie ein Jüngling, eine Jungfrau oder ein Held auf. Nicht umsonst wurde Hamerling bereits zu Lebzeiten mit dem Salzburger Maler Hans Makart (1840–1884) verglichen, nach dessen technisch virtuosen, stilistisch heute weithin auf Ablehnung stoßenden Monumentalgemälden, darunter auch eines Die sieben Todsünden (Die Pest in Florenz), seine Epoche als Makart-Zeit benannt wurde. Für seine Werke wählte Hamerling monumentale Themen und Titel wie Venus im Exil, Ahasverus in Rom, Der König von Sion oder Danton und Robespierre und Goldschmidt orientierte sich ebenso am Grandiosen, an dem musikalischen Monumental-Epos seiner Zeit, Wagners Ring des Nibelungen, der erstmals komplett 1876 in Bayreuth gegeben wurde.

Alma Mahler-Werfel schreibt, sie habe 1901 »in einer Gesellschaft Ludwig Karpath kennen[gelernt]. Er und Adalbert von Goldschmidt (ein etwas verbummeltes, aber starkes Talent) waren meine Tischnachbarn. Das Gespräch kam auf Mahler. Goldschmidt sagte: ›Ach, der, so ein Milchgesicht, das ist ja kein Mann, der zappelige Mensch! Und seine Musik ist keine Musik!‹ Bald sollte ich erfahren, warum Goldschmidt eine so furchtbare Wut auf Mahler hatte. Goldschmidt hatte seine Oper Gaea eingereicht und war abgelehnt worden«.3

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Über dornige Wege zieht ein siebenköpfiger Drache, dessen Häupter die Sieben Todsünden repräsentieren, den hilflos auf einen Wagen geketteten Menschen.
Bild: Unbekannter Künstler

Da Gaea also weitgehend unbekannt geblieben ist, verbindet sich der Name Goldschmidt im Wesentlichen mit dem am 3. Mai 1876 in Berlin uraufgeführten Oratorium Die sieben Todsünden. Im Berliner Börsen-Courier hieß es damals, das Stück werde »seine eigentliche Wirkung erst auf der Bühne thun«4, doch war auch in der konzertanten Fassung – trotz der vierstündigen Dauer – der Erfolg »ein entschieden bedeutender«, wie man in der Berliner Börsen-Zeitung am 5. Mai 1876 schrieb.

Als das Oratorium 1877 in Wien gegeben wurde, verfasste der Wagner-Verächter Eduard Hanslick eine vernichtende Kritik, die die Rezeption des Werks entscheidend negativ beeinflußte.5 Zwar folgte 1884 noch eine Aufführung der Liebesszene in New York, die als »pretentious and a distinct imitation of Wagner’s processes« bewertet wurde,6 und 1885 dirigierte Charles Lamoureux in Paris eine französische Fassung, doch seither scheinen die Todsünden samt ihrem Autor in den Archiven verschwunden zu sein.7 Franz Liszt, dem Goldschmidt sein Werk widmete und der im April 1885 in seinem Wiener Salon zu Gast war, schrieb 1880 ein »Phantasiestück für Pianoforte (zum Concert-Vortrag)«, betitelt Liebesszene und Fortuna’s Kugel, aus »Die Sieben Todsünden«, das heute die einzige greifbare Spur von Goldschmidts Werk darstellt.

Gesungenes Ballett

Erst ein halbes Jahrhundert später sollten die Todsünden wieder musikalisch in Erscheinung treten, in Form eines »Balletts mit Gesang« von Kurt Weill. Der Diplomat Harry Graf Kessler (1868–1937), Koautor des Librettos zur Josephslegende von Richard Strauss (1914), notierte am 14. November 1927 in seinem Tagebuch, Kurt Weill, dem er ein Szenario vorgeschlagen hatte, wolle »die Musik zum Ballett hauptsächlich singen lassen, hinter der Bühne«,8 woraus sich schließen lässt, dass die Grundidee eines gesungenen Balletts – die ja bereits in Igor Strawinskys Pulcinella (1920) realisiert worden war – Weill schon einige Zeit vor der nochmaligen Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht, aus der 1928 Die Dreigroschenoper und 1930 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny hervorgegangen war, vorgeschwebt hatte. Als am 17. Juni 1933 Die sieben Todsünden der Kleinbürger in der Choreographie von Georges Balanchine und mit der Sängerin Lotte Lenya und der Tänzerin Tilly Losch über die Bühne gingen, hatten sie »eine schlechte Aufnahme in der Presse und beim Publikum«, wie Kessler notierte, der »die Musik hübsch und eigenartig« fand, »allerdings kaum anders als die der Dreigroschenoper«,9 womit das Grundproblem des hybriden Werks umrissen sein dürfte. Es wurde zu Weills Lebzeiten nur noch 1936 in Kopenhagen gespielt. Nach seinem Tode avancierte es allerdings fast zum Repertoirestück, u. a. am New York City Ballet gezeigt (1959), von Pina Bausch choreographiert (1976) und von Milva oder Brigitte Fassbaender gesungen. In Italien hatte es eine umfangreiche Brecht-Rezeption u. a. durch Giorgio Strehler gegeben (1956 erschien Brecht höchstpersönlich in Mailand bei der Premiere der Opera da tre soldi am Piccolo Teatro); kurz zuvor bzw. zeitlich parallel dazu – jedoch vollkommen unabhängig von Weill – entstanden zwei weitere interessante Todsünden-Werke, die auf alte italienische Quellen zurückgingen.

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Kurt Weill, 1932.
Bild: Bundesarchiv/wikimedia.org

Musikalische Todsünden in Italien

Gian Francesco Malipiero (1882–1973), ein führender Vertreter der italienischen Moderne, der in bewusster Abkehr von der romantischen Oper oft auf alte Texte zurückgriff, vertonte 1946 einen Zyklus von Sonetten des Petrarca-Zeitgenossen Fazio degli Uberti, in dem die Todsünden sich selbst vorstellen. Malipieros Kantate für vierstimmigen Chor und Orchester, sieben ineinander übergehende Einzelsätze, bewegt sich stilistisch zwischen der Anlehnung an Gregorianik (Solo der Bässe in dem einleitenden Di Superbia) bzw. an alte Meister der Polyphonie (Di Avarizia) und seinem Altersgenossen Igor Strawinsky (Ostinati in Di Lussuria, die vielleicht auch ein wenig an Carl Orffs Carmina Burana gemahnen mögen, was ebenfalls auf die Homophonie der gewissermaßen müde wiederholten c-Moll-Akkorde von Di Accidia zutrifft) und stellt einen Sonderweg des italienischen Neo-Madrigalismus dar, dessen bekanntere Beispiele von Ildebrando Pizzetti und Luigi Dallapiccola stammen.10

Vielleicht um die Wiedergabe der – trotz durchaus interessanter Details (wie dem Aufschrei von Di Ira) – tendenziell ein wenig gleichförmigen Sätze aufzulockern, schlägt Malipiero im Vorwort vor, eine Tänzerin auftreten zu lassen, die sich zwischen dem Chor bewegen sollte, der halbkreisförmig angeordnet die Handlung kommentiert. Diese bisher wohl noch nie erprobte Bühnenlösung würde eine Parallele zu Brecht/Weill darstellen, in deren Werk die zuhause zurückgebliebene Familie der beiden in die Welt gezogenen und dort mit den Todsünden kämpfenden Annas ja auch als eine moderne Variante des kommentierenden Chores der griechischen Tragödie gelten kann.

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Peter Dell d. Ä., Ira, um 1535/40.
Bild: Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum

Im selben Jahr der italienischen Premiere der Dreigroschenoper wurden I sette peccati von Antonio Veretti (1900–1978) uraufgeführt. Nach seiner Abkehr von der Spätromantik und der Hinwendung zur Zwölftontechnik ließ er sich 1953/54 durch die erneute Lektüre von Dantes Purgatorio zu einem »Mistero musicale e coreografico«, also zu einem modernen Mysterienspiel anregen. Verettis Konzept sieht vor, die Todsünden in sieben Orchesterstücken darzustellen, wobei beispielsweise als Superbia (Stolz, Nr. 1) eine Passacaglia oder als Gola (Unmäßigkeit, Nr. 6) eine Gagliarda erklingt, also alte Formen wiederaufgegriffen werden, während die Ira (Zorn, Nr. 4) durch ein Ostinato symbolisiert wird; jeder Sünde folgt direkt im Anschluss ihre Buße bzw. eine Bitte um Vergebung, die jeweils in einem Canto di penitenza zum Ausdruck kommt, eine von einem vier- bzw. sechsstimmigen A-cappella-Chor gesungene kurze Motette (oder ein vier- oder fünfstimmiger Choral, wie bei Nr. 2 und Nr. 7) auf lateinische Texte aus den Psalmen. Die Verbindung von alten Traditionen mit der Zwölftontechnik erinnert an Alban Bergs Wozzecksuperbia