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Herausgegeben von der Europäischen Musikforschungsvereinigung Wien Jahrgang 71/2016 Heft 6 - O Fortuna Musikalische Glücksverheißungen

Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ) | Jahrgang 71/06 | 2016

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von

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Schicksalsrad aus dem Codex Buranus, um 1230.

Liebe Leserinnen und Leser,

»Wir haben die Kunst«, schrieb Friedrich Nietzsche 1888, »damit wir an der Wahrheit nicht zugrunde gehen«. Das erscheint als eine ziemlich defensive Definition angesichts dessen, was gerade die Musik den meisten Menschen verspricht. Was sie in ihnen an Erwartungen schürt und nicht zuletzt deshalb weithin zur Ersatzreligion avancieren ließ. Äußerst oft gesellt sie sich hinzu, wenn das Glück mit Worten aller Arten verhandelt wird: ein kostbares, aber unverkäufliches und zerbrechliches Gut. Es komme »selten per Posta zu Pferde«, komponierte Georg Philipp Telemann im frühen 18. Jahrhundert. In dessen späterem Verlauf rückte es – und das war menschheitsgeschichtlich neu – als Verheißung in die Verfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika ein, dann in Edikte Napoléons, die das »Glück der Völker« anriefen. Hundert Jahre nach Telemann brachte Heinrich Hoffmann (›von Fallersleben‹) »des Glückes Unterpfand« in jenen Strophen unter, die zur wirkungsmächtigsten Parodie der Haydn’schen Kaiserhymne wurden.

Schon in den Carmina Burana, den um 1230 in Benediktbeuern gesammelten 254 mittellateinischen, mittelhochdeutschen, altfranzösischen bzw. provenzalischen Vaganten-Liedern unbekannter Autoren des 11. und 12. Jahrhunderts, wird Fortuna (das Schicksal) angerufen – Carl Orff versah einige dieser Dichtungen 1937 mit Musik. In etlichen Werken aus der Frühzeit der Oper trat die Glücksgöttin höchstpersönlich auf den Plan. Sie mischte sich in Monteverdis Ritorno d’Ulisse in patria ein, zuvor schon in Francesco Cavallis La Didone und L’Ormindo. Sie geisterte noch ein gutes Jahrhundert später durch Niccolò Jommellis Fetone und durch Il sogno di Scipione des jungen Mozart. In Cavallis Eliogabalo wurde bemerkenswert früh das Prickeln und der Fluch des Hedonismus zum zentralen Thema eines musikdramatischen Werks von Rang.

»Stillvergnügt« musizierte nicht nur das Streichquartett in der biedermeierlichen Bürgerstube des 19. Jahrhunderts – mit dem Titel und den Tönen von Glückes genug fasste Robert Schumann Klavier-Pièce (Kinderszenen, op. 15, Nr. 5) eine in Deutschland und Österreich weitverbreitete Geistes- und Gemütshaltung in eine kaum zu übertreffende musikliterarische Chiffre. »Wochenend und Sonnenschein«, sangen die Comedian Harmonists, »brauchst du mehr, um glücklich zu sein?« Die Sehnsucht nach dem raren Glück durchzieht die Texte der Schlager in Geschichte und Gegenwart wie ein roter Faden, die Klage über das verlorene als Leitmotiv das Opernrepertoire. Musik in bestimmtem Zuschnitt und geeigneter Dosierung kann nicht nur pauschales Versprechen, sondern gezielt Stimulanz sein. An die glückbringenden Potenzen der Musik richten sich die erheblichsten Sehnsüchte. Zum omnipräsenten Thema des »Rennens nach dem Glück« gehört schließlich die Jagd nach dem musikalisch Exquisiten – und dann eben auch »Elitären«. Schließlich sogar das mehr oder weniger stille Glück des musikalischen Experiments (»das Glück rennt hinterher«). Indem der Zusammenhang von Musik, (Un-)Glück und Freiheit in E- wie U-Musik der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart thematisiert wird, erschöpft sich das nicht enden wollende Thema keineswegs im Historischen. › Die Redaktion

Inhalt

O Fortuna Musikalische Glücksverheißungen

Habakuk Traber: Glücks-Splitter

Fortuna in der Musikgeschichte: Das hochmütige Glück

Lene Lutz: Musik in Stein gemeißelt Salome und ihr Instrumentalbegleiter

Fortuna in der Musikgeschichte: Das grausame Schicksal

Arnold Mettnitzer: Das Glück im Klang

Fortuna in der Musikgeschichte: Das hilfreiche Glück

Frieder Reininghaus: Hedonistisches Opernglück Francesco Cavallis Eliogabalo

Fortuna in der Musikgeschichte: Das Glück als Handlangerin des Schicksals

Martin Hoffmeister: »Glückes genug« Das un-fassbare Versprechen der Musik

Fortuna in der Musikgeschichte: Das schmeichlerische Glück

Konstanze Fladischer: Trügerische Heiterkeit Glücksverheißungen in der Operette

Fortuna in der Musikgeschichte: Das mutwillige Glück

Sabine Sanio: Über den Zusammenhang von Musik, Glück und Freiheit

Fortuna in der Musikgeschichte: Das wechselhafte Glück

Johannes Prominczel: Musik und Unglück Der frühe Tod in der Popularmusik

Nachruf

Michael Mautner: Gerhard Wimberger

Extra

Maria Behrendt: Von Franz S. bis Beyoncé – Schuberts Ave Maria, das Ewig- und das Heutig-Weibliche

Lena Dražić: Avantgarde und Utopie – das Ende einer Affäre

Lis Malina: »… dem armen toten Dichter darf kein Unrecht geschehen« Neue Forschungsergebnisse über Hans Kaltnekers Die Heilige, der Vorlage für Korngolds Das Wunder der Heliane

Fokus Wissenschaft

Thijs Vroegh: »Wodurch entsteht bei Ihnen Musikgenuss?«

Neue Musik im Diskurs

Christian Heindl: Bühne frei für die Kontrabassblockflöte – Eva Reiter erhielt den Erste Bank Kompositionspreis 2016

Berichte … aus Wien

Salieris Falstaff und Offenbachs Hoffmanns Erzählungen (Frieder Reininghaus)

Glucks Armide (Johannes Prominczel)

Gerald Reschs Inseln (Markus Hennerfeind)

70 Jahre ÖMZ (Christian Heindl)

Berichte … aus Österreich

Klangspuren Schwaz (Sandra Hupfauf)

Musikprotokoll im Steirischen Herbst (Ulrike Aringer-Grau)

Berichte … aus dem Ausland

Straznoys Comeback in Berlin (Fabian Schwinger)

Donaueschinger Musiktage (Michael Zwenzner)

Puccinis Manon Lescaut in Amsterdam (Frieder Reininghaus)

Rezensionen

Bücher, DVD, CDs

Das andere Lexikon

Glückliche Musik (Frieder Reininghaus)

News

Glücksgefühle

Zu guter Letzt

Luther hören (Frieder Reininghaus)

Vorschau

THEMA

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Glücks-Splitter

Habakuk Traber

Alle rennen nach dem Glück – Theologen, Ärzte, Dichter, Denker, Ratgeber- und Almanach-Schreiber, Lebenswisser und Lifestyle-Blogger. Die Musik darf in diesem Wettbewerb nicht fehlen. Lange war sie sogar als Nummer 1 gesetzt. Sie bringt Glück, schafft Glück, simuliert Glück, verspricht Glück. Sie ist ein Glück. Selbst am Gegenpol des beflügelnden Hochgefühls tut sie ihre Wirkung. Gibt es ergreifendere Darstellungen von Unglück und Leid als die Lamenti der Ariadne, des Orpheus oder der Dido, welche die Geschichte der Oper durchziehen, seit die Gattung existiert? Selbst die blasse Schönheit von Glucks Orpheus-Klage »Che farò senza Euridice« rührt, denn die Musik trauert, hat aber die Idee des Glücks nicht aufgegeben. Warum bewegen die Passionen Johann Sebastian Bachs auch säkulare Gemüter bis heute? Weil sie das größte Unglück behandeln, das die Schriftreligionen kennen: die Gottverlassenheit.

Dürfte man nur ein Beispiel für Glück in der Musik nennen, dann käme wohl Robert Schumanns Schöne Fremde in die engere Wahl, jenes Lied, das die erste Hälfte des Eichendorff-Liederkreises op. 39 abschließt. Der Gesang endet aus einem Aufschwung mit den Worten: »Es redet trunken die Ferne | wie von künftigem, großem Glück«, und mündet in ein Klaviernachspiel im großen Ton, mit ausgreifendem Melos in sonorer Mittellage, alles in der entrückten Tonart H-Dur, die Wagner für die Liebesszene in Tristan und Isolde wählte, und die bis zu Alexander Skrjabin und Olivier Messiaen als Medium des spirituellen Glücksversprechens diente. Schumann versieht sie allerdings mit einer harmonischen Mollausweichung, als wolle er andeuten, dass zum Glück immer auch der Schatten seines Gegenbilds gehört. Sein Glück bleibt faktisch unfassbar, es leuchtet aus zeitlicher und räumlicher Ferne herüber, ereignet sich eher als Erwartung denn als Erfüllung.

Das Klaviernachspiel in op. 39,6 verdichtet ein zwei Jahre älteres Klavierstück, Glückes genug, Nr. 5 der Kinderszenen. Es gehört zum Vorhergehenden, Bittendes Kind, und wirkt auch nur in dieser Verbindung richtig.

Schumann lenkt die Suche nach Urerfahrung des Glücks in die Kindheit – »und mit Recht«, wie Hermann Hesse ein Jahrhundert später meinte, »denn zum Erleben des Glücks bedarf es vor allem der Unabhängigkeit von der Zeit und damit sowohl von der Furcht wie von der Hoffnung.« Die Musik bietet sich als Medium an, denn so sehr sie Kunst in der Zeit ist, so sehr sie Affekte wie Furcht oder Erwartung auslösen und transportieren kann, so sehr lebt sie als Wirklichkeit nur im Augenblick, in der Intensität des Hier und Jetzt, in der Vergänglichkeit, flüchtig wie das Glück. Immer wieder werden Kindheit und Glück verknüpft, in Lortzings Zaren-Arie (»Sonst spielt ich mit Szepter…«), in Kierkegaards philosophisch-musikalischen Reflexionen, und auch in der Nachmoderne, etwa in Claude Viviers Lonely Child, Traum-Reflexionen über das Glück des Kindes, über das Gefühl einer Zeit außerhalb der Zeit und über das Glück des schönen Klangs jenseits harmonischer Konventionssysteme.

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Nie wieder wird das Glück so umittelbar erfahrbar wie in der Kindheit. Laughing Children with a Cat, Ölgemälde von Judith Leyster, 1629. Bild: wikiart.org

Grenzen des Glücks

Mit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nimmt der Glücks-Klang in der Musik eine eigenartige Wendung. Er zerfällt in Pose und Sehnsucht. Zwei Daten symbolisieren den Riss: die Uraufführung von Wagners Tristan 1865 in München und die deutsche Reichsgründung 1871 in Versailles. In strammen Tönen wurde rund um den Deutsch-Französischen Krieg ein nationales Glück beschworen; es nährte sich vom Unglück der anderen. Hoffmann von Fallerslebens Verse »Blüh im Glanze dieses Glückes | Blühe, deutsches Vaterland!« wurden zur Siegerpose verengt und aufgedonnert. An diesem Aufmarschglück, zu dem sich als Privatvergnügen die Wanderlust gesellte, nahm Anton Bruckner mit seiner Achten Symphonie, ihrem Michel-Scherzo und ihrem Dreikaiser-Meistersinger-Finale als Beobachter teil. Hugo Wolf stellte es in seinem Eichendorff-Lied vom Heimweh in die romantische Dialektik von Heimat und Fremde, ehe er das Stück mit pathetischem Gruß an Deutschland abschloss. Richard Strauss aber antwortete auf die öffentliche Monumentalisierung des Glücks mit drei Tondichtungen: dem Heldenleben, in dem er den Künstler zum wahren Heros erklärt – getreu der Wagner-Devise von 1870: »Dem Weltbeglücker gebührt der Rang noch vor dem Welteroberer«; der Alpensymphonie mit Gipfelglück und Abstiegsgewitter in der Natur; und in der Sinfonia domestica, in der das häuslich-nächtliche Glück bis zum physischen Höhepunkt und der anschließenden Erschöpfung musikalisch ausgekostet wird. Die schärfste Konsequenz aus dem verordneten Glücks-Triumph-Gehabe zog einer, der mit viel Glück den Stalin-Terror von 1936 überstand: Dmitri Schostakowitsch mit dem Finale seiner Fünften Symphonie. Vom Schluss, der sich auf D-Dur ins Endlose zu lärmen droht, meinte er selbst: »Der Jubel ist unter Drohungen erzwungen. […] So als schlage man uns mit einem Knüppel und verlange dazu: Jubeln sollt ihr! Jubeln sollt ihr!« Und natürlich glücklich sein dabei.

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»Ich geh, ich wandre in die Berge«, heißt es im letzten Satz »Abschied« von Mahlers Lied von der Erde. Bild: Dai Jin (1388–1462): Dichtes Grün bedeckt die Frühlingsberge/wikimedia.org

Die Gegentendenz, die Glück als individuelle Sehnsucht betrachtete, reicherte das romantische Erbe mit neuen Trends der Seelenforschung an. Ihr Referenzstück bleibt Wagners Tristan und Isolde. In diesem Musikdrama geht es zwar um Glück und Unglück, um Fülle der Liebe und das Weltgefühl Tod. Aber im ganzen großen Werk taucht das Wort »Glück« nur zehn Mal auf, manchmal in der alten Bedeutung von »Geschick«, manchmal rätselhaft wie in der zweiten Szene des zweiten Akts mit dem »Eifer, der mein Glücke schreckt«, meist aber nur en passant. Die Bedeutung eines verbalen Leitmotivs erlangt es nicht, auch in der Thementabelle der Oper findet sich keine Glücksfigur, dagegen acht Liebesmotive, einschließlich Liebesjubel, -feier und -tod. In den entscheidenden Situationen – der Liebesszene II, 2 und dem Schlussbild – erscheint es einmal enigmatisch, dann als Grußformel. Isolde braucht es in ihrem Schlussmonolog nicht, sie beschwört die »höchste Lust«, die nach Nietzsches späterer Erkenntnis Ewigkeit will. War Glück für das, was Wagner verhandelte, als Kategorie zu eng, zu flüchtig, zu wenig absolut? Fasste es die kosmische Ausbreitung und Verströmung des Ich und seiner Liebe nicht mehr? Es gibt das kleine Glück, die kleine Lust in Wagners Sinn gibt es nicht.

Eine indirekte Antwort auf den Tristan-Absolutismus gab Gustav Mahler mit dem letzten Stück, dem Abschied, aus seinem Lied von der Erde. »Mir war auf dieser Welt das Glück nicht hold!«, heißt es da. Der das singt, ist ein Nachkomme des Wanderers, der seit Schubert durch die Musik des 19. Jahrhunderts zieht: Das Glück der Ungebundenheit, das Wolf in seinem Musikanten-Lied nach Eichendorff preist, erkauft er mit dem Daueraufenthalt in der Fremde, die sich nicht immer so schön wie bei Schumann darstellt. Die Passage vom verfehlten Glück hob Mahler prominent hervor: Sie leitet in dem ausgedehnten Vokal-Symphoniesatz nach einer ausgiebigen Orchester-Durchführung die fragmentierte Reprise ein und führt sie dorthin, wo die Quintessenz aus allen Sätzen des Zyklus gezogen wird. »Mir war auf dieser Welt das Glück nicht hold« – das ist die Bilanz, die den endgültigen Abschied einleitet. Er erinnert an die Legende vom chinesischen Maler, der seine Freunde zu sich rief, um ihnen ein Bild zu zeigen, das ihn lange beschäftigte. Als jene ein Urteil gefasst hatten und es dem Künstler eröffnen wollten, war er verschwunden. Sie entdeckten ihn schließlich auf seinem eigenen Bild, wie er den Weg die Anhöhe hinauf (»Ich geh, ich wandre in die Berge«, heißt es bei Mahler) zu einem Haus ging, die Tür öffnete, den Getreuen ein letztes Abschiedszeichen gab und dann die Pforte hinter sich verschloss. Das letzte, vielleicht das wahre Glück des Künstlers ist das eigene Werk, die eigene Schöpfung.

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Prometheus bringt den Menschen das Feuer und die Fähigkeit zum Glück. Ölgemälde von Heinrich Füger, um 1820. Bild: wikimedia.org

Das große, das tragische Glück

Die Linie, die von Tristan ins 20. Jahrhundert führt, streift Mahler nur und landet bei anderen Komponisten, die wie jener nach 1933 verfemt waren: bei Franz Schreker und seiner Oper Der ferne Klang, bei Alexander Zemlinsky und seinem König Kandaules, bei Arnold Schönberg und seinen Monodramen Erwartung und Die glückliche Hand. Diese spielen in den finsteren Verliesen und Verstecken des Glücks, die Suche nach ihm gerät zur Tragödie. Die Frau der Erwartung stolpert im dunklen Wald über die Leiche des Geliebten; in der Glücklichen Hand hockt sich das erstrebte Glück als Fabeltier dem Mann ins Genick und belehrt ihn: »Musstest du’s wieder erleben? – Und suchst dennoch! Und quälst dich! – Und bist ruhelos!« – In Zemlinskys Oper lässt die sagenhaft schöne Königin Nyssia, die von Kandaules gegen ihren Willen vor anderen entschleiert wird, ihren Mann vom Fischer Gyges ermorden und macht diesen dann zum Herrscher; in ihrer vielleicht stärksten Arie singt sie: »Ich bin wie das Glück: das Glück verwelkt, wird es entschleiert.« – Im Fernen Klang verlässt der Protagonist, ein Compositeur, seine Geliebte, um sich als Künstler zu verwirklichen und den magischen Klang zu finden, der ihm vorschwebt, und den er doch nicht fassen kann. Erst als er zu seiner Liebe zurückkehrt (beide sind inzwischen körperliche und seelische Wracks), findet er ihn, den Inbegriff seines Glücks, kurz vor dem letalen Ende. Ein Zeitgenosse Schrekers entdeckte den Zauberklang leichter als sein virtueller Kollege in der Oper: Alexander Skrjabin komponierte seinen Promethée mit all dem Überschwang, der auch das Licht in die Komposition einbezog, aus einem »mystischen Akkord«. Prometheus war es, der nach der antiken Sage den Menschen die Fähigkeit zum Glück schenkte, und für Skrjabin bedeutete es das reine Glück, dass seine Schöpferkraft aus diesem Urklang wie aus einer Weltformel ein großes Werk hervorgehen ließ.

Karlheinz Stockhausen trat Skrjabins Erbe an. Einen Teil seines letzten zyklischen Werks, das er dem Tag in seinem Stundentakt widmete, nannte er Glück; er besetzte ihn kammermusikalisch zurückhaltend mit einem Trio aus Oboe, Englischhorn und Fagott, also mit einem Ensemble, das man kaum mit musikalischem Überschwang verbindet. Wie durch ein Prisma verdichtet erscheint dort, was sein vorletztes Riesenwerk, die Musiktheater-Heptalogie Licht auszeichnet, die »aus einer einzigen Superformel abgeleitet [ist], deren Verwandlungen und Projektionen vom Größten bis ins Kleinste alles durchdringen« (Ilja Stephan). »Wir brauchen einen Abstand von Jahrzehnten«, meinte der Komponist, »bevor wir überhaupt wahrnehmen können, dass in LICHT eine Superformel über sieben mal drei Stunden gespreizt ist. Wenn einem wie in einem luziden Traum auf einmal aufgeht, dass jeder Abend ein Glied der Superformel ist, das muss ja bis zum Explodieren Glück erzeugen!«

Das kleine Glück

Über dem kosmischen Glück, das sich nur an der Freude (und dem Lachen) Gottes über seine Schöpfung messen lässt, sei das kleine Glück nicht vergessen, die Idyllen des bescheidenen, zufriedenen Lebens, die in unzähligen Beispielen die Popular- und Schlagerkultur bevölkern. Paradigmatisch gerade auch in ihrer leichten Ironie können dafür die beiden Songs stehen, die Robert Gilbert und Werner Richard Heymann 1932 für den UFA-Kassenschlager Der blonde Traum schrieben: »Wir zahlen keine Miete mehr, wir sind im Grünen zuhaus« und »Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück«, einem Vor-Verwandten von Leonard Bernsteins Somewhere aus der West Side Story. Heymann wahrt immer noch die romantische Distanz zwischen Wunsch und Erfüllung. Sie wird wenig später durch den Brustton der Überzeugung kassiert. »Ich brauche keine Millionen, mir fehlt kein Pfennig zum Glück, | Ich brauche weiter nichts als nur Musik, Musik, Musik.« Als dieser Schlager im UFA-Tonfilm Hallo Janine 1939 mit Marika Rökk herauskam, hatte manch anderer Mensch tatsächlich »weiter nichts als nur Musik, Musik, Musik«. Den Klezmorim und den »Zigeunern« in Osteuropa blieben noch zwei Jahre, um ihr Lachen in Tränen, ihren Stolz im Leid zu singen und zu geigen. Für professionelle Musiker, die aus den NS-beherrschten Ländern flohen, wurde die Musik zum Reservat ihrer Identität, zum Schutzraum, den keiner okkupieren konnte, für viele auch zur Rettung. Das Scheuklappen-Glück, das die Rökk besang, hätte ihnen wie Hohn in den Ohren gedröhnt. Ganz anders klang noch knapp zehn Jahre zuvor die kesse Glücks-Umtriebigkeit der Comedian Harmonists (»Wochenend und Sonnenschein…«) oder Friedrich Hollaenders Eingeständnis: »Wenn ich mir was wünschen dürfte […] möcht ich etwas glücklich sein, denn sobald ich gar zu glücklich wär, hätt ich Heimweh nach dem Traurigsein«. Alte jüdische Weisheit spricht da, die Melodie lebt von der »talmudischen Terz«, die manchmal eine (kleine) Terz ist, manchmal aber auch keine Terz, sondern eine übermäßige Sekund, und die sich doch immer gleich bleibt. In der Musik der ostjüdischen Diaspora, auch bei den »Zigeunern«, war sie fest zu Hause. In ihr ist die Vermengung mit dem Leid, ist die Janusnatur des Glücks zum »tonischen Symbol« geworden.

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Im Revuefilm Hallo Janine (1939) mit Marika Rökk und Johannes Heesters fehlt der Titelheldin zum Glück »weiter nichts als nur Musik, Musik, Musik«. Bild: kino.de

»Das Glücke kommt selten per Posta zu Pferde«, mahnte Telemann 1735 zur Geduld und, wo möglich, zur Gelassenheit in Angelegenheiten des Glücks. Manchmal kommt es auch incognito, als hätte es sich den Ring des Gyges wie im König Kandaules übergezogen. Manchmal löst die Musik diesen Zauber und macht es hörbar. Vielfach aber tut sie, die Kunst der großen Simulation, nur so. Es verhält sich auch in der Welt der schönen und wohlorganisierten Klänge wohl so, wie ein Rabbi angesichts des ganz, ganz kleinen Glücks bemerkte: Kommt’s, ist’s ein Wunder – kommt’s nicht, ist’s ein Wunder?

Habakuk Traber lebt als Musikpublizist in Berlin. Er schreibt Artikel und Essays für Orchester und Festivals im In- und Ausland, Bücher und Buchbeiträge vor allem über Musik im Exil, über Themen der Berliner Musikgeschichte und über zeitgenössische Komponisten. 2002 bis 2014 war er Dramaturg der Münchener Biennale.

Das hochmütige Glück

(Giovanni Francesco Busenello/Claudio Monteverdi: L’incoronazione di Poppea (1642), Prolog)

FORTUNAFORTUNA
Deh, nasconditi, o Virtù,Verbirg, Virtus, dein Antlitz,
Già caduta in povertà,denn seit langem schon bist du verarmt,
Non creduta deità,Göttin ohne Gläubige,
Nume ch'è senza tempio,Gottheit ohne Tempel,
Diva senza devoti, e senza altari,ohne Anbeter oder Altäre;
Dissipata,verstoßen,
Disusata,ungewohnt,
Abborrita,gehasst,
Mal gradita,wenig geschätzt,
Ed in mio paragon sempre avvilita.und immer verspottet, so scheint mir.
Già regina, hor plebea, che per comprartiEinst Königin, jetzt Bettelweib, gezwungen,
Gl’alimenti e le vestidich selbst zu kleiden und zu nähren
I privilegi e i titoli vendesti.durch Verkauf deiner Titel und Rechte.
Ogni tuo professore,Jeder deiner Anhänger,
Se da me sta divisoder sich von mir entfernt,
Sembra un foco dipintoist wie ein gemaltes Feuer,
Che nè scalda, nè splende,das weder wärmt noch leuchtet;
Resta un calor sepoltoeine begrabene Farbe
In penuria di luce.durch Mangel an Licht.
Chi professa virtù non speri maiKein Verehrer der Tugend kann
Di posseder richezza, o gloria alcuna,auf großen Reichtum oder Ruhm
Se protetto non è dalla Fortuna!hoffen ohne den Schutz Fortunas.

THEMA

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Musik in Stein gemeißelt
Salome und ihr Instrumentalbegleiter

Lene Lutz