RONALD M. HAHN

 

 

Vampire wie du und ich

 

 

 

Ein komischer Grusel-Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

VAMPIRE WIE DU UND ICH 

1. Ein seltsamer Fund 

2. Der Vampir-Experte 

3. Die Tagung der Vampire 

4. Die Burg im Nebel 

5. Der Werwolf von Wunsiedel 

6. Dunkle Gestalten in der Nacht 

7. Die Nachtwanderung 

8. In dunklen Grüften 

9. Hochgebildete Diebe 

10. Die Wahrheit kommt ans Licht 

 

Das Buch

 

Liebe Kinder, in diesem Roman, der in der Kindheit eurer Eltern spielt, kommen einige komische Wörter vor, die ihr vielleicht nicht kennt: Schallplatte, Tonbandgerät, Schreibmaschine, Telegramm, Frollein, Humphrey Bogart, Bela Lugosi, Oberprima, Hauptschulabschluss und so weiter. Falls ihr euch fragt, was diese Wörter zu bedeuten haben: Ergoogelt euch ihre Bedeutung. Es kann eurer Bildung nicht schaden. Und außerdem könnt ihr bei den Doofen damit angeben, was ihr für irre Wörter kennt!

Außerdem werden in diesem Roman ZIGARETTEN geraucht! Dieses Buch also bitte erst lesen, wenn ihr 18 Jahre alt seid. Die Romanfiguren verwenden zudem altertümliche Redewendungen, denn früher hat man halt anders gesprochen als heute: Wenn einem im 20. Jahrhundert etwas sehr wichtig war, hat man nicht gesagt 'Das ist mir GANZ GANZ wichtig', sondern 'Das ist mir SEHR wichtig'. Beide Redewendungen haben aber die gleiche Bedeutung!

So, jetzt wisst ihr Bescheid.

Nun aber ran ans Lesevergnügen! 

Der Autor

 

 

Ronald M. Hahn, Jahrgang 1948.

Schriftsteller, Übersetzer, Literaturagent, Journalist, Herausgeber, Lektor, Redakteur von Zeitschriften.

Bekannt ist Ronald M. Hahn für die Herausgabe der SF-Magazine Science Fiction-Times (1972) und Nova (2002, mit Michael K. Iwoleit) sowie als Autor von Romanen/Kurzgeschichten/Erzählungen in den Bereichen Science Fiction, Krimi und Abenteuer.

Herausragend sind das (mit Hans-Joachim Alpers, Werner Fuchs und Wolfgang Jeschke verfasste) Lexikon der Science Fiction-Literatur (1980/1987), die Standard-Werke Lexikon des Science Fiction-Films (1984/1998, mit Volker Jansen), Lexikon des Horror-Films (1985, mit Volker Jansen) und das Lexikon des Fantasy-Films (1986, mit Volker Jansen und Norbert Stresau).

Für das Lexikon der Fantasy-Literatur (2005, mit Hans-Joachim Alpers und Werner Fuchs) wurde er im Jahr 2005 mit dem Deutschen Fantasy-Preis ausgezeichnet. Insgesamt sechsmal erhielt Hahn darüber hinaus den Kurd-Laßwitz-Preis - dem renommiertesten deutschen SF-Preis - , u.a. für die beste Kurzgeschichte (Auf dem großen Strom, 1981) und als bester Übersetzer (für John Clute: Science Fiction - Eine illustrierte Enzyklopädie, 1997).

Weitere Werke sind u.a. die Kurzgeschichten-Sammlungen Ein Dutzend H-Bomben (1983), Inmitten der großen Leere (1984) und Auf dem großen Strom (1986) sowie - als Übersetzer - der Dune-Zyklus von Frank Herbert.

Ronald M. Hahn lebt und arbeitet in Wuppertal. 

VAMPIRE WIE DU UND ICH

 

 

  1. Ein seltsamer Fund

 

Schon acht Wochen nachdem Heiner Schmidt vom Direktor des Grausewitz-Gymnasiums an die Luft gesetzt worden war, erkannte er, dass er in seinem neuen Wirkungskreis streichemäßig auf der Stelle trat.

Die Schule, in der er jetzt büffelte, stellte sich ihm als Ausbund an Langeweile dar, was aber beileibe nichts mit den Lehrern zu tun hatte, sondern mit den Schülern: Sie waren so brav und fleißig wie die Generation seines Großvaters. Das Lehrpersonal hingegen bestand ausnahmslos aus jungen Leuten, die hauptsächlich in selbstgestrickten Pullovern, Jeans und Turnschuhen auftraten und Heiners geniale Streiche wider Erwarten lustig fanden. Und deswegen machte es ihm bald keinen Spaß mehr, ihnen Zettel auf den Rücken zu kleben, auf denen Sprüche wie ICH BIN NOCH ZU HABEN oder AUCH ICH WAR EIN JÜNGLING MIT LOCKIGEM HAAR standen.

Nachdem Heiner seine Talente ausgiebig bewiesen hatte – unter anderem hatte er im Unterricht einem Dutzend Spinnen die Freiheit geschenkt, die er in Nachbars Garten gefangen hatte -, lobten ihn die Lehrer wegen seines Einfallsreichtums und stellten ihn vor der Klasse als Beispiel eines aufgeweckten Schülers hin. Dies war Heiner furchtbar peinlich. Lob war das letzte, was er von seinen natürlichen Feinden erwartete.

Das Lehrerlob zeigte ihm außerdem, dass er auf seine Meister gestoßen war. Die ausgefuchsten Pauker der neuen Schule entsprachen dem Klischee des früh vergreisten, weltfremden Akademikers in keiner Weise: Es war einfach noch nicht lange genug her, seit sie selbst die Schulbank gedrückt hatten. Sie kannten jeden Trick und jede faule Ausrede.

Nach acht Wochen wurde Heiner klar, das er es nicht schaffen würde, sie wirklich auf die Palme zu bringen, und so beschloss er, nach anderen Opfern Ausschau zu halten: Ein besonderer Dorn im Auge waren ihm jene unter seinen Mitschülern, die stets mit Ernst bei der Sache waren und sich schon mit vierzehn Gedanken um ihre Rente machten.

Ein Blick in den Kracher, die Schülerzeitung, zeigte ihm recht schnell, wo sich der Einsatz lohnte: Das Blättchen wurde offenbar von einer Bande humorloser Streber gemacht, die sich viermal im Jahr in langweiligen und schönschwätzerischen Aufsätzen über das Freizeitverhalten der Nasenbären, die Balztänze der Häher, die Verwendung des Konjunktivs bei Joseph Freiherr von Eichendorff und andere spannende Themen ausließen.

Selbst die Pauker stöhnten, wenn sie den Kracher lasen; im Lehrerzimmer fand das Blatt kaum mehr Anklang als auf dem Schulhof. Der Kracher wurde von Ausgabe zu Ausgabe öder, und das, glaubte Heiner, schrie nach seinen Talenten: Als Sohn des zerstreutesten Schriftstellers der Welt stand ihm das gedruckte Wort natürlich besonders nahe. Und so sah er es als seine Pflicht an, ein gehöriges Maß an Witz in die Schulgazette zu bringen – schon deswegen, um zu verhindern, dass einem bei der Lektüre die Füße einschliefen.

Um die humorlosen Streber zu beeindrucken, die den Kracher herausgaben, bewarb sich Heiner mit einem gestelzten Brief um Aufnahme in die Redaktion. Er hatte Glück: Man brauchte gerade einen Mann für das Ressort ‘Unsere geliebten Heimatdichter’. Heimatdichter waren allerdings ungefähr das letzte, was Heiner interessierte, aber immerhin hatte er jetzt schon mal einen Fuß in der Tür. Ob Lehrer, Mitschüler oder Heimatdichter – ein cleverer Junge wie er konnte alles veralbern. Kommt Zeit, kommt Rat.

Die erste Redaktionssitzung, an der Heiner teilnahm, fand am letzten Schultag vor den Ferien statt. Und wie es seine Art war, kam Heiner fünf Minuten zu spät, weswegen ihn beim Eintreten niemand eines Blickes würdigte. Die Schüler des Heinrich Heine-Gymnasiums galten nämlich als die pünktlichsten Schüler der Welt.

Dass sie den roten Teppich ausrollten und ihn mit Sekt und Kaviar begrüßten, hatte Heiner zwar nicht erwartet (dafür war die Redaktionskasse zu leer), aber dass die fünf Burschen nicht mal den Kopf hoben, als er zur Rettung des ‘Krachers’ nahte, wurmte ihn doch.

Hatte es sich etwa noch nicht herumgesprochen, dass er der legendäre Autor des spritzigen Einakters ‘Wie Lehrer Grausewitz mal wieder das Abendland vor dem Untergang rettete’ war? Wahrscheinlich hatten diese müden Knaben noch nicht einmal von dem berühmten Oberstudienrat Grausewitz gehört, der sich 1832 ins afrikanische Mulungu aufgemacht hatte, um den dortigen Kannibalen die deutsche Sprache und das Bergische Heimatlied beizubringen. Das Grausewitz-Gymnasium hatte sich äußerst erbost über die Verunglimpfung des Andenkens dieses großen Mannes gezeigt: Immerhin hatte der große Grausewitz auch den stufenlos verstellbaren Sockenhalter und die gummilose Schnurrbartbinde erfunden. Wahrscheinlich hatten die Kracher-Macher auch noch nichts vom ‘Heuler’ gehört, jene Schülerzeitung, für die Heiner zuvor geschrieben hatte. Nun gab es ihn nicht mehr – seinetwegen. Vielleicht war es besser, wenn er den Kracher-Redakteuren erst einmal nichts davon erzählte...

Chefredakteur Kalle Kraushaar begrüßte Heiner zwar mit einem lässigen Wink, aber damit hatte es sich auch schon: Die restlichen Anwesenden gähnten, kratzten sich am Kopf, zupften sich an der Nase oder schauten zur Decke hinauf. Heiner erkannte mit einem Blick, dass keiner von ihnen eine Idee hatte, wie man die Schülerzeitung vor dem Eingehen bewahren konnte. Verständlich – am letzten Schultag waren sie in Gedanken schon unterwegs in den sonnigen Süden oder in die Eifelwälder.

Der Kracher hatte, wie Heiner kurz darauf zu hören bekam, mit einem Problem zu kämpfen, das ihn nicht sonderlich überraschte: Nicht nur die Leser meuterten, wenn man sie in der Pause zwang, freiwillig ein Exemplar zu kaufen. Auch die ‘Alten Herren’, eine Gruppe von Ex-Schülern, die mittlerweile im Berufsleben standen, hatten ihrem Abscheu deutlich Ausdruck verliehen.

Ihrer Meinung nach bestand das Blatt aus Witzen, die jeder kannte; aus krakeligen Karikaturen, die Politiker veräppelten, die sowieso schon im ganzen Land unten durch waren; aus Kreuzworträtseln, deren Auflösung keinen Sinn ergab und aus Lobhudeleien von Popmusik-Größen, die in vier Wochen keinen Menschen mehr interessierten. Die gebildeten Aufsätze über das Freizeitverhalten der Nasenbären, die Balztänze der Häher und die Verwendung des Konjunktivs bei Joseph Freiherr von Eichendorff hatten die ‘Alten Herren’ gnädig übergangen – wahrscheinlich deswegen, weil sie ihnen so dumpf erschienen, dass keiner sie las.

»Und was die Rechtschreibung des ‘Krachers’ anbetrifft«, so endete der Brief, »so wäre es dringend angebracht, wenn ihr euch entschließen könntet, einen Duden zu kaufen. Manche der Kracher-Autoren können nicht einmal einen Punkt von einem Komma unterscheiden.«

Das war natürlich maßlos übertrieben, fand die Redaktion. (Schließlich musste sie etwas zu ihrer Verteidigung vorbringen). Aber ernst war die Lage trotzdem: Die ‘Alten Herren’ hatten nämlich angekündigt, dem Kracher ihre Gunst entziehen, wenn er sich nicht bald zum Besseren hin änderte. Und das, fand Kalle Kraushaar, war die Horror-Meldung des Monats: Die ‘Alten Herren’ bezuschussten das Blatt nämlich mit zweihundert Mark pro Ausgabe.

»Wir müssen dieses Schreiben sehr ernst nehmen«, führte Kalle aus. »Wenn es uns nicht gelingt, mehr Pep und Witz ins Blatt zu heben, drehen sie uns den Geldhahn zu. Die nächste Nummer wollen sie noch finanzieren, aber dann...«

Kalles Worte hingen so unheilschwanger im Raum, dass Heiner sich an das vielzitierte Schwert des Damokles erinnert fühlte. Doch die Redaktion schien sie nicht recht verstanden zu haben. Alle taten so, als wären sie nicht gemeint und murmelten sich etwas in den Bart.

»Was sagt ihr dazu, Männer?«, fragte Kalle.

»Ähm...«

»Nun...«

»Tja...«

»Hmmm...«

Heiner sah es glasklar: Die Luft war raus. Die Redaktion hatte keine Ideen mehr. Sie hatte abgewirtschaftet. Was hatten die Jungs doch für ein Glück, dass er zu ihnen gestoßen war – Heiner Schmidt, der kreative Geist! Er war bereit, aus dem seriösen Kracher ein Witzblatt ersten Ranges zu machen! Natürlich durfte niemand etwas von seinen Plänen erfahren...

»Also«, sagte Kalle, der selbst kaum ein Gähnen unterdrücken konnte, »wer hat interessante Themenvorschläge?«

Schwupp. Alle starrten wieder an die Decke, kratzten sich am Kopf, zupften sich an der Nase.

Der Fall war klar. Hier herrschte die totale Unlust. Heiner räusperte sich. Er wollte gerade etwas sagen, als Siggi sich zu Wort meldete. Siggi war der einzige an dieser Schule, der Humor hatte, auch wenn er ihn meist ungewollt zeigte: »Ich habe da noch dieses bombige Spottgedicht auf Goethe in der Schublade...«

Heiner zuckte zusammen.

Die Redaktion stöhnte auf.

»Oh, nein!«

»Bitte nicht!«

»Nicht schon wieder!«

»Wir haben es schon so oft abgelehnt«, ächzte Kalle, »dass ich es nicht mehr zählen kann!«

»Vielleicht sollten wir mal die besten Stellen aus Siggis Aufsätzen bringen«, ätzte der schöne Elmar. »Zum Beispiel: ‘Das Schwein trägt seinen Namen völlig zu Recht, denn es ist wirklich eins’.«

Die Redaktion wieherte. Kalle lehnte sich zurück, zog einen Zettel aus der Tasche und sagte: »Den Satz hier hat er heute fabriziert! Ich hab ihn mitgeschrieben: ‘Der Löwe sprang mit einem Satz auf Androklus zu, doch dann leckte er ihm das Gesicht ab. – Die Römer hatten das Gegenteil erwartet’.«

Die Kracher-Redakteure fielen brüllend über die Tische, und Sommersprossen-Roderich gackerte aufgeregt: »Sein bester Satz ist und bleibt der hier: ‘Was für die Pflanzen der Mist ist, ist für den jungen Menschen die Schule’.«

Siggi schlug beide Hände vors Gesicht. Natürlich ärgerten ihn seine Stilblüten gewaltig, aber das änderte nichts daran, dass er sich für einen Dichter und Goethe für eine Null hielt. Leider war ihm noch nie ein Zweizeiler gelungen, der sich wirklich reimte.

»Ähm«, machte Heiner, während die Anwesenden nach Luft rangen, »wenn ich mal etwas zur Sache sagen darf...«

Alle Köpfe fuhren herum.

»Ja, Heiner?«, fragte Kalle hoffnungsvoll.

»Also, ich sehe die Lage so...« Heiner räusperte sich und stand auf. »Ein Blinder kann sehen, dass der Kracher erledigt ist, wenn wir uns nicht ganz schnell auf ein Konzept einigen, mit dem wir ihn interessanter machen können. Ich sehe aber auch, dass ihr nichts anderes im Kopf habt, als nach Hause zu rennen, um die Urlaubskoffer zu packen.«

Leises Protestgemurmel ertönte. Aber es klang nicht übermäßig engagiert.

Heiner holte tief Luft. »Es geht um das Überleben des ‘Krachers’! Da gilt es, alle Register zu ziehen, die wir auf Lager haben.« Er sah die Redakteure an. »Aber wie ich sehe, habt ihr absolut nichts auf Lager...«

»He, he, he, heee!«, kam es empört aus allen Ecken.

Heiner hob eine Hand. »Es ist nicht böse gemeint. Ich sehe ja ein, dass eine Redaktion auch mal ausspannen muss...«

»Sehr richtig!«, sagte der schöne Elmar. Die anderen pflichteten ihm bei.

»...deswegen schlage ich vor, dass die nächste Nummer von einer Ersatzredaktion gestaltet wird«, fuhr Heiner fort.

»Von einer Ersatzredaktion?«, riefen alle. »Wer soll das denn sein?«

»Nun«, sagte Heiner mit einem schmalen Lächeln, »ich denke dabei speziell an Theo Schmitz, Sepp Grantlhuber, Henry von Humpermann und mich. Ich bleibe nämlich in den Ferien zu Hause und habe jede Menge Zeit!«, Er sah sich triumphierend um.

Doch statt des erwarteten Gejubels, blickte er nur in leere Gesichter, und Kalle Kraushaar sagte stirnrunzelnd: »Wer, zum Kuckuck, ist Theo Schmitz?«

»Und wer«, sagte der schöne Elmar, »sind Sepp Grantlhuber und Heinrich von Humpermann?« Er schenkte Heiner einen misstrauischen Blick. »Sind die überhaupt auf unserer Schule?«

Heiner kreuzte die Zeige- und Mittelfinger beider Hände hinter dem Rücken und erwiderte: »Klar! – Es handelt sich um die Decknamen von drei Top-Schülern, die wie ich früher auf der Grausewitz-Schule waren.«

Was irgendwie den Tatsachen entsprach. Bloß waren Theo Schmitz, Sepp Grantlhuber und Henry von Humpermann ein- und dieselbe Person: Diese Decknamen gehörten ausnahmslos einem gewissen Heiner Schmidt.

Leider hatte Heiner vergessen, dass der geschwätzige Pit Pallenberg, der ebenfalls zeitweilig das Vergnügen gehabt hatte, die Grausewitz-Schule zu besuchen, davon wusste. Und Pit musste es den anderen natürlich brühwarm erzählen.

Alle lachten; Kalle inklusive. Der schöne Elmar prustete: »Hört euch diesen Angeber an! Er will den Kracher allein schreiben! – Ist es denn zu fassen?«

Sommersprossen-Roderich kicherte: »Wir sollten einen Arzt rufen!«

Heiner war leicht irritiert. Und wie immer, wenn er leicht irritiert war, spürte er, wie seine Ohren wackelten. Zu seiner Überraschung hatte dies einen ungewöhnlichen Effekt auf die Kracher-Redaktion.

»He, he«, machte Kalle, als er es sah.

»Ho, ho«, machte Siggi.

»Hi, hi«, machte Pit.

»Nicht übel«, sagte Kalle Kraushaar. »Wirklich – nicht übel! Wie machst du das?« Er warf einen humorigen Blick in die Runde. »Der Typ ist wirklich talentiert!«

Heiner wusste zwar nicht, was das Ohrenwackeln mit seinen Talenten als Scherzbold zu tun hatte, aber irgendwie wurde ihm klar, dass dies eine Fähigkeit war, die die Bande für ihn einnahm. Hatten seine Ohren etwa magische Kräfte?

»Wenn er so gut schreibt, wie er mit den Ohren wackelt«, sagte Siggi, »sollte man das Experiment vielleicht wagen.«

»Jaaa«, sagte Kalle gedehnt und kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Humor müsste die ‘Alten Herren’ eigentlich wieder mit dem Kracher versöhnen.«

Heiner sah sich grinsend um. »Ich schlage vor, dass wir nächste Nummer unter das Thema Satire und Theologie stellen. Dafür bin ich genau der richtige Mann!«

Kalle kicherte: »Das glaube ich auch!«

Auch Sommersprossen-Roderich nickte. Der schöne Elmar sagte nichts, aber sein Gesichtsausdruck sagte, dass er sich fragte, was die Satire wohl mit der Theologie zu tun hatte. Siggi wiegte versonnen sein Haupt. Dann erzählte Pit Pallenberg der Redaktion von Heiners legendärem Aufsatz ‘Wie ich einmal mit einer einfachen Drahtschere im Zoo für Aufregung sorgte’.

Und das überzeugte auch den letzten Zweifler.

»Satire und Theologie«, murmelte Kalle gedankenverloren. »Es klingt tatsächlich irgendwie vielversprechend.« Er zog die Brauen hoch. »Wenn auch nicht gerade seriös...«

»Die Satire darf alles«, sagte Heiner schnell. »Das hat schon der alte Tucholsky gesagt.«

»Natürlich könnte ich so was auch schreiben«, warf Siggi ein, der seine Position als Dichter in Gefahr sah. »Mehr als eine halbe Stunde bräuchte ich nicht dazu...«

»Dann tu’s doch«, sagte Sommersprossen-Roderich.

»...aber leider fliegen wir heute Abend nach Jamaika«, sagte Siggi eilig. »Und ich muss noch meinen Koffer packen.«

»Ich meine es ernst«, sagte Heiner, der fest entschlossen war, alle Register seines Könnens zu ziehen. »Wenn ihr wieder da seid, ist der Kracher fix und fertig!«

»Ich beantrage eine Abstimmung«, sagte der schöne Elmar und warf einen eiligen Blick auf seine Armbanduhr.

»Ich unterstütze den Antrag«, sagte Heiner flink.

Man stimmte ab. Heiner gewann haushoch – ohne Gegenstimmen und Enthaltungen. Das Ergebnis stand kaum fest, als die Redakteure geschlossen ihre Unterlagen einpackten und sich zwinkernd auf den Heimweg machten.

»Da siehst du, wie’s um die Kampfmoral steht«, sagte Kalle leicht verdrossen. »Die würden nicht mal arbeiten, wenn’s Geld dafür gäbe!«

Heiner blieb allein zurück. Er fühlte sich wie der einsame Held auf weiter Flur. Jetzt lag alles an ihm. Er war der Marshal, der die kleine Stadt ganz allein vor dem Ansturm der Komantschen beschützen musste; der tapfere Astronaut, der verhinderte, dass die Riesenkakerlaken vom Mars die Erde unterjochten. Er war die fünfte Kolonne, die aus dem seriösen Kracher das Karnevalsblatt des Jahrhunderts machen würde...

Es war ein tolles Gefühl. In Siegerlaune schwelgend schritt er durch den Korridor, und sein Kopf schwebte mehr oder weniger über den Wolken.  

Als er das Schulgebäude verließ und sich in alle Windrichtungen umsah, schien die Sonne. Der Himmel war blau. Die Bäume bogen sich in einer sanften Brise. Die Vögel zwitscherten. Die Luft roch nach Auspuffgasen. Kurz gesagt: Es war das reinste Großstadtparadies.

Als er sich am Tor auf sein Fahrrad schwingen wollte, um nach Hause zu radeln, ließ ihn etwas stutzen.

Da kam ein finsterer Mann des Weges. Er hatte dunkle Augen, die fiebrig glänzten, und trug einen Schlapphut. Der Mann war ganz in Schwarz gekleidet. Der lange Umhang, der um seine Schultern wehte, erinnerte ihn an den Kino-Heuler ‘Graf Dracula und seine Jünger im Schwarzwald’, der seinem Freund Fuzzi besonders gut gefallen hatte: Der Obervampir war durch eine bekannte TV-Klinik geschlichen und hatte nach Blutkonserven gesucht.

Doch der finstere Mann, der nun an Heiner vorbeiging, sah noch unheimlicher aus als der Schauspieler, der die Rolle des Grafen wahrscheinlich aufgrund seiner schlechten Finanzlage hatte spielen müssen: Er fletschte die Zähne und geballte im Gehen die Fäuste. Der Mann sah aus, als hätte er Magenschmerzen.

Wahrscheinlich es ein Ex-Schüler, der durchs Abi gerasselt war. Dieser Blick! Wie musste er die Penne hassen!

Als der Mann an Heiner vorbeigegangen war, machte etwas ‘Plopp’. Unter dem Vorhang der finsteren Gestalt rutschte etwas hervor und fiel auf den Boden. Fast in der gleichen Sekunde betätigte ein Autofahrer die Hupe, um eine Katze zu verscheuchen, die über die Straße lief. Der Klang der Hupe übertönte das ‘Plopp’, so dass der finstere Mann nicht merkte, dass er etwas verloren hatte. Dann bog er um eine Straßenecke.

»He, Meister!«, rief Heiner. »Sie haben etwas verloren!«

Doch der Meister hörte ihn nicht.

Heiner nahm sein Rad und begab sich dorthin, wo der aus dem Umhang des Unbekannten gefallene Gegenstand lag. Es schien eine Zeitung zu sein. Oder...?

Er bückte sich und hob sie auf. Es war keine Zeitung im üblichen Sinn: Das dünne Ding ähnelte äußerlich frappierend dem Kracher und bestand aus mehreren zusammengehefteten DIN-A-4-Bögen.

Nanu, dachte Heiner, was haben wir denn da?

Dann fiel sein Blick auf den Titelkopf. In der oberen linken Ecke grinste ihm ein langzahniger Dracula entgegen. Daneben stand VAMPIR-EXPRESS SONDERAUSGABE. Der Rest war mit einer Schreibmaschine geschrieben, deren Buchstaben auf und nieder tanzten, und die Schrift war so undeutlich, dass er große Schwierigkeiten hatte, sie zu entziffern.

Die Schlagzeile lautete: EIN BESUCH IM HAUS DES MEISTERS. Und irgendwo links unten stand DIE WERWOLFPLAGE UND WIE MAN SICH GEGEN SIE ZUR WEHR SETZT.

Heiner hatte zwar nie geglaubt, dass so etwas möglich ist, aber in diesem Augenblick hatte er das Gefühl, als richte sich sein Haupthaar auf. Er blinzelte, holte tief Luft und sagte: »Sapperlot! Kann ich meinen Augen trauen?« Auf der Stelle war er davon überzeugt, auf etwas gestoßen zu sein, das eine pfundige Geschichte für den Kracher abgab.

  2. Der Vampir-Experte

 

Eine Viertelstunde später stand sein Fahrrad im Stadtpark an einem Baum, und Heiner selbst saß am Ententeich auf einer Bank und bemühte sich, kein allzu auffälliges Verhalten an den Tag zu legen. Dies war auch dringend nötig, denn er war ziemlich aufgeregt, was man am unkontrollierten Zucken seiner Ohren deutlich sehen konnte.