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Zum Buch:

Eine Röntgenaufnahme des Südtiroler Sanitätswesens:
fundiert recherchiert, mit zahlreichen internationalen Vergleichen, pointiert geschrieben.

Dieses Buch will wachrütteln.

Dabei weist es jedoch nicht nur auf Defizite oder organisatorische Mängel hin, sondern auch auf die Stärken des Südtiroler Gesundheitssystems, die sich im Vergleich mit anderen Regionen zeigen. Solche Daten belegen die Leistungen, die Ärzte, Pfleger, Röntgen- oder Labortechniker Tag für Tag erbringen. Wenn wir aber weiterhin ein leistungsfähiges, qualitativ hochwertiges und bezahlbares Gesundheitswesen haben wollen, müssen wir als Gesellschaft bereit sein, notwendige und zum Teil schmerzhafte Reformen durchzuführen.

Patentrezept gibt es dafür keines, international aber viele Beispiele, an denen sich Südtirol orientieren könnte.

Provokante Fragen liefern Denkanstöße und regen zu einer sachlichen Diskussion an.

Zum Autor:

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Franz Plörer hat an der Universität Innsbruck Politikwissenschaft studiert, war Redakteur der Wochenzeitung „ff“ und Direktor der landeseigenen Stiftung Vital, die den Auftrag hatte, gesundheitsförderliche Projekte und Kampagnen zu planen und umzusetzen. Er hat an der Universität Perugia einen Master in Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung und an der Medizinischen Universität Graz einen Master in Public Health erworben.

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Die Drucklegung erfolgte mit Unterstützung der Autonomen Provinz Bozen – Amt für deutsche Kultur

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© Edition Raetia, 2017

Die Übersetzungen aus dem Italienischen stammen vom Autor.

ISBN 978-88-7283-601-9

www.raetia.com

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Franz Plörer

Die Krankheiler

Südtirols Gesundheitswesen auf dem Prüfstand

Mit einem Vorwort von Kurt Langbein

Inhalt

Kurt Langbein: Gesundheit ist eine Frage der Solidarität

14 Fragen zum Südtiroler Gesundheitswesen

1 Südtirols Sanitätsbetrieb kommt aus den Schlagzeilen nicht heraus. Ist die medizinische Versorgung schlechter als ihr Ruf?

2 Viele Ärzte resignieren und kehren Südtirol den Rücken. Droht Südtirol auf Jahre hinaus ein Ärztemangel?

3 Südtirols Gesundheitswesen muss reformiert werden. Damit alles so bleibt, wie es ist?

4 Alle Menschen sind krank, man muss nur lange genug suchen. Ist die moderne Diagnostik Segen oder Fluch?

5 Viel hilft viel. Aber ist eine Bevölkerung, die viele Medikamente konsumiert und viel operiert wird, auch gesünder?

6 Arme Menschen sind häufiger und länger krank als reiche, und sie sterben früher. Haben wir eine Zweiklassen-Medizin?

7 Soziales Kapital als Voraussetzung für Gesundheit. Gibt es die Mitgliedschaft in Vereinen bald auf Rezept?

8 Vorbeugen ist besser als heilen, weiß der Volksmund. Und wie schaut es damit im Südtiroler Gesundheitswesen aus?

9 Ärzte wehren sich gegen wirtschaftliche Kennzahlen. Wie viel Markt darf oder muss es im Gesundheitswesen geben?

10 Die digitalisierte Medizin hat um Südtirol einen Bogen gemacht. Wird das jetzt anders?

11 Die Erste Hilfe in Bozen und die überfüllten Bettenstationen. Wo bleibt der Ausweg für Patienten?

12 Die Handelskammer fordert ein Bonus-Malus-System. Funktioniert das Gesundheitswesen wie eine Autoversicherung?

13 Immer mehr Menschen leiden an mehreren Krankheiten gleichzeitig. Ist das Südtiroler Gesundheitswesen darauf vorbereitet?

14 Ein Ärgernis für Ärzte. Der informierte Patient, oder: Wie bereite ich mich auf einen Arztbesuch vor?

Gesundheit ist eine Frage der Solidarität

Der Medizinbetrieb ist mehr als ein Spiegel der Gesellschaft, aber er ist auch das. Alte Hierarchien versperren den Weg in die moderne Dienstleistungsgesellschaft, Regionalpolitik oft jenen zu mehr Qualität, die in der techniklastigen Medizin nur mit großen Fallzahlen erreicht werden kann.

Aber es gibt einen weiteren Wandel, der große Herausforderungen schafft: Die längst an die Finanzierungsgrenzen gestoßene Reparaturmedizin erlebt eine massive Krise der gesellschaftlichen Akzeptanz. Neben ihr entwickelt sich – noch relative leise – die vielgliedrige Strömung einer Ganzheitsmedizin, die sich auf die Erhaltung und die Wiedererlangung von Gesundheit des ganzen Menschen konzentriert und weniger auf die Reparatur kranker Zellen oder Organe.

150 Jahre nach dem Beginn des naturwissenschaftlich-medizinischen Fortschritts und den ersten Erfolgen einer mechanistischen Sicht auf die Dinge des Lebens beginnt also ein neues medizinisches Zeitalter: Es wird getragen von der Erkenntnis, dass Gesundheit das Ergebnis komplexer psychischer, sozialer und physiologischer Prozesse ist.

Seit den Studien Michael Marmots, Professor für Public Health am University College London, über sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen wissen wir, dass die Reparaturmedizin nur zu einem kleinen Teil zur Steigerung der Lebenserwartung beiträgt. Der Lebensstil und vor allem die „effort reward balance“, also die Balance zwischen den Bemühungen des Menschen und der dafür erhaltenen Anerkennung am Arbeitsplatz und im privaten Umfeld, entscheiden mehr als alle klassischen Risikofaktoren über Gesundbleiben bzw. Krankwerden eines Menschen.

Der Einfluss, den wir auf die Umstände unseres Lebens haben – und die Chancen, uns als vollwertige, anerkannte Mitglieder unserer Gesellschaft zu fühlen – sind also entscheidend für die Gesundheit. Marmot bringt auf den Punkt, was im Licht der Studienergebnisse das Leben länger macht: „Die gesellschaftliche Position eines Menschen entscheidet nicht nur über Einkommen und Ansehen, sondern auch über Leben und Tod. Denn der entscheidende Faktor heißt soziale Lage und vor allem Anerkennung für das, was man tut.“

Und da wird das Gesundheitswesen wieder bedeutsamer als die reine Reparaturmedizin: Wenn es im Medizinbetrieb, der fast überall zu den größten Arbeitgebern zählt, gelingt, demokratische und menschenfreundliche Strukturen zu etablieren, kann er auch für sozialen Ausgleich sorgen. Und das ist bitter nötig. Im Gesundheitswesen wird sich entscheiden, ob nach dem Zusammenbruch der alten sozialstaatlichen Modelle in der modernen Zivilgesellschaft ein neues System der Solidarität entsteht oder eine tiefe Dezivilisierung in den Industriestaaten Platz greift.

Damit letzteres nicht geschieht, tut Aufklärung über die Zukunft des Gesundheitswesens not. Der vorliegende Band schafft es – eingebettet in die internationale Diskussion um das Thema und mit Verweis auf zahlreiche wissenschaftliche Studien – in leicht verständlicher Weise die lokalen Herausforderungen aufzuzeigen. Es liegt nun an den Entscheidungsträgern, darauf zu reagieren. Und an der Bevölkerung, für ihre langfristigen Interessen einzutreten.

Kurt Langbein

Ehemaliger Mitarbeiter von Claus Gatterer, Mitautor des 1983 erstmals erschienenen Bestsellers „Bittere Pillen“ (aktuelle Ausgabe bei Kiepenheuer & Witsch, 2017) und Autor von „Weißbuch Heilung: Wenn die moderne Medizin nichts mehr tun kann“ (Ecowin Verlag, 2014)

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Südtirols Sanitätsbetrieb kommt aus den Schlagzeilen nicht heraus.

Ist die medizinische Versorgung schlechter als ihr Ruf?

Wer auch nur flüchtig die Zeitungen durchblättert oder im Radio und im Fernsehen die Nachrichten hört – oder gelegentlich mit einem Arzt oder einer Krankenschwester spricht –, dem muss angst und bange werden angesichts der Berichte über das Südtiroler Gesundheitswesen.

Das Südtiroler Wochenmagazin „ff“ titelte 2013 „Patient tot – Das Südtiroler Gesundheitssystem steht vor dem Infarkt: Ärzte und Pfleger sind gehetzt, die Kommunikation schlecht, die Arbeitsabläufe chaotisch. Der Alltag frustriert alle Beteiligten und führt oft zu falschen Diagnosen.“ Selbst Sanitätsdirektor Oswald Mayr (er ist 2016 in den Ruhestand getreten) macht keinen Hehl aus seiner Befürchtung, „dass wir das Gesundheitswesen an die Wand fahren, wenn wir nicht rasch die notwendigen Reformen angehen und umsetzen.“

Wie ist diese katastrophale Zustandsbeschreibung möglich, wo uns doch die Politik seit Jahr und Tag versichert, dass wir eines der besten Gesundheitssysteme in Europa, um nicht zu sagen in der Welt, haben?

Die Wahrnehmung der Patienten ist keineswegs alarmierend. Die Befragungen zur Patientenzufriedenheit, die der Sanitätsbetrieb durchführt, geben keinen Anlass zur Beunruhigung: Herr und Frau Südtiroler deutscher, ladinischer und italienischer Muttersprache sind mit dem Südtiroler Gesundheitswesen rundum zufrieden – abgesehen von den Wartezeiten, die als zu lang empfunden werden.

Nun könnte man einwenden: Der Sanitätsbetrieb führt die Befragung selber durch, also darf einen das positive Umfrageergebnis nicht überraschen. Mag sein. Aber andere gelangen zu ähnlichen Ergebnissen. Das Quality of Government Institute der Universität Göteborg hat 2010 im Auftrag der EU-Kommission in 172 europäischen Regionen eine Studie durchgeführt, und siehe da: Bei der Patientenzufriedenheit rangierte das Südtiroler Gesundheitssystem unter den ersten zehn Regionen Europas. Erhoben wurden Aspekte wie Menschlichkeit, Informiertheit, technische Kompetenz, Bürokratie und Erfolg der Behandlung. Dänemark führte die Hitliste an, es folgten Schweden, Finnland, die Niederlande und Luxemburg. Südtirol lag bei der Regionenbewertung an neunter Stelle und damit gleichauf mit dem Trentino und dem Aostatal. Einziger Schönheitsfehler der Studie: Die Forscher hatten in Südtirol nur 200 Menschen befragt.

Der Südtiroler Sanitätsbetrieb: negative Schlagzeilen

Das eine ist die Zufriedenheit der Patienten, etwas anderes die mediale Berichterstattung. „Schock für Sterzing“ titelte die „Neue Südtiroler Tageszeitung“ im Juni 2016, nachdem die Landesregierung das Aus für die Geburtenstation im Wipptal beschlossen hatte. Die Aufregung um das Ende der Geburtenstationen in Sterzing und Innichen war noch nicht verflogen, da heizte sich die Stimmung im Vinschgau auf: „Es brodelt in Sachen Krankenhaus“, berichteten die „Dolomiten“.

Parallel zum Streit um die Geburtenstationen, der zu einem tiefen Riss zwischen Landesregierung und Teilen der Bevölkerung geführt hat, gärte 2016 monatelang ein Konflikt zwischen den Hausärzten auf der einen Seite und Gesundheitslandesrätin Martha Stocker und Ressortdirektor Michael Mayr auf der anderen Seite. „Wir ziehen ihnen das Fell über die Ohren“, tönten die Hausärzte und drohten nicht nur mit Streik. Auch vor Gericht wollten sie ziehen, wenn Stocker und Mayr nicht einlenkten. Die Hausärztegewerkschaft FIMMG forderte Ressortdirektor Mayr auf, „sich für sein rechtswidriges Verhalten öffentlich zu entschuldigen“. Von „organisierter Hetze“ war die Rede und davon, dass die Hausärzte in die öffentlichen Verhandlungspartner „kein Vertrauen“ mehr haben.

An anderer Stelle war zu lesen, dass in Brixen die Ärzte der Notaufnahme mittels Notverordnung zur OP-Assistenz verpflichtet werden, weil ärztliches Personal fehle. Die Schlagzeile der „Dolomiten“ vom 8. April 2016: „Urologe beim Kaiserschnitt im OP“. Für die Spitalsärztegewerkschaft ANAAO stand außer Zweifel: „Das ist illegal! Urologen haben in einem Kreißsaal nichts verloren.“

Kaum im Amt, da wollten ihn viele schon wieder loswerden. Die „Dolomiten“-Schlagzeile vom 29. April 2016: „An Schaels Stuhl wird gesägt.“ Gemeint ist Thomas Schael, der seit Juni 2015 neuer Generaldirektor des Südtiroler Sanitätsbetriebes ist. Noch nicht einmal zwölf Monate waren seit seiner Amtsübernahme vergangen, schon sah sich Schael „einer transversalen Front aus vergraulten Chefärzten, Gesundheitsbezirken und reformunwilligen SVP-Bezirkspolitikern gegenüber“.

In Innichen hatten Ärzte, Hebammen und Pflegerinnen gemeinsam mit Bürgermeistern und der Bevölkerung das letzte Aufgebot mobilisiert. Mit Fackelumzügen, Protestmaßnahmen vor dem Landtag und Unterschriftenaktionen hatten sie sich vehement gegen das Unvermeidliche gestemmt: gegen die Schließung der Geburtenstation und gegen die Schließung der Gynäkologie, die ab Juli 2016 mit der Chirurgie verschmolzen wurden. Nach Innichen folgte Sterzing: Unter der Schlagzeile „Geeinte Front gegen Schließung“ berichteten die Tageszeitungen „Dolomiten“ und „Alto Adige“ am 16. Juli 2016: „3.000 Bürger aus dem Wipptal für den Erhalt der Geburtenstationen – Harsche Kritik an Landesrätin Martha Stocker“ und: „In tremila per salvare l’ospedale“ (3.000 um das Krankenhaus zu retten). „Der Erker“, die Monatszeitschrift für das Wipptal, nutzte die Aussage von Franz Kompatscher, SVP-Bürgermeister der Gemeinde Brenner und Parteifreund der Landesrätin, für die Schlagzeile: „Martha lügt und Martha wurschtelt.“

Der Vinschger SVP-Parlamentarier Albrecht Plangger suchte daraufhin italienweit Verbündete, um die Schließung der Geburtenstation in Sterzing zu verhindern, „sonst wird auch noch Schlanders zugesperrt. Das lassen wir uns nicht gefallen.“ Seine Partei und der Landeshauptmann forderten ihn auf, endlich damit aufzuhören, in Rom gegen die Landesregierung zu arbeiten. Beeindruckt hat ihn das nicht. „Wir müssen uns mit anderen Gebieten zusammenschließen, die dasselbe Problem haben wie wir: Trentino, Lombardei, Veneto, Toskana.“

Im Wipptal verweigern die SVP-Funktionäre die Gefolgschaft und drohen mit Parteiaustritt. Eine klare gesundheitspolitische Linie, die zumindest von den Parteifunktionären mitgetragen wird, schaut anders aus. SVP-Obmann Philipp Achammer weiß um den Zustand in seiner Partei, er kennt die Konflikte und Widersprüche. Aber er weiß auch, dass das Südtiroler Gesundheitswesen reformiert werden muss. Einen Ausweg aus diesem Dilemma hat er bislang nicht gefunden. Dabei hätte es schon vor Jahren eine klare politische Entscheidung zu den Geburtenstationen gebraucht.

„Das Thema ist seit 20 Jahren auf dem Tisch, aber die Politik war bisher nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen“, bemerkt Karl Lintner, der frühere Sanitätskoordinator des Gesundheitsbezirkes Brixen und Leiter der Basisdienste. „Rein ökonomisch gesehen hat die Geburtenstation in Sterzing keine Berechtigung: Man muss sich nur vorstellen: Sterzing hat durchschnittlich eine Geburt am Tag, dafür müssen wir vier Fachärzte, einen Pädiater, einen Gynäkologen, eine Hebamme und einen Anästhesisten für 24 Stunden 365 Tage im Jahr teuer bezahlen. Das kann’s doch nicht sein! Dabei wäre es überhaupt kein Problem, die 300 Geburten in Brixen unterzubringen.“ Aber in einer emotional aufgeheizten Atmosphäre haben solche Hinweise kaum eine Chance.

Der Südtiroler Sanitätsbetrieb: positive Studienergebnisse

Die Geschichte des Südtiroler Sanitätsbetriebes (betriebsinternes Kürzel: Sabes) könnte eine Erfolgsstory sein. Die Zahlen, die 2015 im Gesundheitsbericht des Landes veröffentlich wurden, sind beeindruckend:

200.000 Mal suchten Menschen medizinische Hilfe bei der Notaufnahme,

8,2 Millionen ambulante fachärztliche Leistungen wurden erbracht,

es gab 470.000 akute und 61.000 postakute Aufenthaltstage,

drei Millionen Rezepte für Medikamente wurden ausgestellt.

Aber was sagen diese Zahlen in Anbetracht der offen oder auch versteckt ausgetragenen Konflikte zwischen Gesundheitsbezirken und Landesregierung, zwischen Parteispitze und Parteibasis, zwischen den Primaren und dem Generaldirektor, zwischen Gewerkschaften, Landesrätin und Landesbeamten?

Auskunft über die Qualität der medizinischen Versorgung geben die Reports der Scuola Universitaria Superiore Sant’Anna in Pisa, besser bekannt unter Bersaglio-Studie, das Programma nazionale esiti der AGENAS (Agenzia Nazionale per i Servizi Sanitari Regionali, eine Einrichtung, die beim Gesundheitsministerium angesiedelt ist) oder auch die Studien, die von der Universität Tor Vergata in Rom (Una misura di Performance dei Sistemi Sanitari Regionali) erstellt werden.

Laut Bersaglio-Studie (siehe Abb. 1) kann sich die Bilanz des Südtiroler Sanitätsbetriebes durchaus sehen lassen. Viele Beurteilungen liegen im grünen Bereich, werden also positiv bewertet. Das gilt zum Beispiel für die Prozessqualität (C 5) und für die Angemessenheit der Medikamentenverschreibungen (C 9), negativ schaut es hingegen bei der Impfrate (B 7) oder bei der Angemessenheit chirurgischer Eingriffe (C 4) aus. Ein Hinweis, der sich seit Jahren wiederholt: Das Südtiroler Gesundheitswesen wird von den Autoren als zu teuer (F 17) kritisiert. Ein Grund für die hohen Kosten bestehe darin, dass viele Patienten in Südtirol stationär behandelt werden, obwohl eine Aufnahme im Krankenhaus gar nicht notwendig wäre (siehe Kap. 5).

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Abb. 1: Das Südtiroler Sanitätswesen: gut, aber teuer

Quelle: Scuola Universitaria Superiore Sant’Anna (2014). Il sistema di valutazione, Pisa

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Abb. 2: Oberschenkelhalsbruch: Die Wahrscheinlichkeit in Südtirol innerhalb von zwei Tagen operiert zu werden, ist im Vergleich mit anderen Regionen Italiens hoch.

Quelle: AGENAS (2015). Programma nazionale esiti, Roma

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Abb. 3: Chronische Niereninsuffizienz: Die Wahrscheinlichkeit in Südtirol innerhalb von 30 Tagen daran zu sterben, ist im Vergleich mit anderen Regionen Italiens gering.

Quelle: AGENAS (2015). Programma nazionale esiti, Roma

Die Studie der AGENAS vergleicht Krankheiten und deren Verlauf anhand mehrerer Qualitätsindikatoren. Ein Beispiel, das dem Programma nazionale esiti der AGENAS entnommen wurde, bezieht sich auf die Oberschenkelhalsbrüche (siehe Abb. 2). Früher kam eine solche Fraktur bei älteren Menschen einem Todesurteil gleich. Um das zu verhindern, ist es wichtig, dass der Eingriff möglichst rasch erfolgt. Verglichen mit anderen Regionen befindet sich Südtirol im Spitzenfeld. Besonders schlecht schneiden hingegen die Regionen Molise und Kampanien ab.

Ein anderes Beispiel, das als Qualitätsmerkmal herangezogen werden kann, bezieht sich auf die chronische Niereninsuffizienz (siehe Abb. 3). Die Wahrscheinlichkeit, an dieser Krankheit innerhalb von 30 Tagen nach der stationären Aufnahme zu sterben, ist in Südtirol geringer als in anderen Regionen.

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Abb. 4: Rangliste der regionalen Gesundheitsdienste: Südtirol im oberen Drittel

Quelle: Università di Roma Tor Vergata (2016). Una misura di Performance dei SSR, Roma

Auch die Studie der Universität Tor Vergata in Rom zeigt, dass das Südtiroler Gesundheitssystem gute Ergebnisse liefert, aber im Vergleich zu anderen italienischen Regionen noch Verbesserungspotenzial hat: Die Gesundheitssysteme in Venetien, Trient, Toskana, Piemont und Friaul-Julisch Venetien wurden von den Experten aufgrund zahlreicher Qualitätskriterien besser bewertet.

Der Südtiroler Sanitätsbetrieb: interne Unzufriedenheit

Trotz der vielen Erfolge und der beeindruckenden Bilanz, die das Südtiroler Gesundheitswesen vorweisen kann, besteht kein Anlass für Freudentänze. Der Druck auf das System steigt, weil die Widersprüche offensichtlicher werden. Nicht wenige Primare, Oberärzte, aber auch Pfleger und Verwalter kommen mit den Anforderungen (zunehmende Bürokratie und Leistungsverdichtung) nicht klar, kündigen oder ziehen sich in die innere Emigration zurück. Andere mucken auf und riskieren ein Disziplinarverfahren. Tatsächlich findet man in der Führungsetage kaum jemanden, der die Stimmung unter Ärzten und Pflegepersonal als „gut“ bezeichnen würde.

Ein Beispiel, das dafür Pate steht, ist „SP-Expert“, das der Sanitätsbetrieb 2013 einführen wollte. Es handelt sich dabei um ein elektronisches System, mit dem der Personaleinsatz besser geplant werden kann. Knapp eine halbe Million Euro hat die Software gekostet, berichtete die „Tageszeitung“. Dem Blatt wurde ein Brief zugespielt, in dem sich Chefärzte über dieses neue Informationssystem entrüsten. Schwerfällig sei es, zeitraubend und nervtötend, hinausgeworfenes Geld für zusätzliche Bürokratie, die nur dazu beitrage, dass Ärzte von den Patienten ferngehalten werden. „Wir Primare des Südtiroler Sanitätsbetriebes sind einem funktionsfähigen, schlanken Gesundheitswesen mit möglichst wenig bürokratischem Aufwand verpflichtet“, heißt es in dem Schreiben der Primare an den damaligen Landesrat für Gesundheit Richard Theiner. Jede Doppelgleisigkeit und Schwerfälligkeit in Erfassung und Dokumentation müsse verhindert werden. Trotzdem wurde es eingeführt, obwohl selbst die Führungsspitze im Sanitätsbetrieb der Meinung sei, „SP-Expert müsse nur deshalb verwendet werden, weil es viel gekostet hat.“

2016/17: Berichte und Polemiken im Zeitraffer

Andere Beispiele, die mehr oder weniger zufällig ausgewählt wurden, fügen sich wie Puzzleteile in ein Gesamtbild, das die Schwierigkeiten, mit denen der Südtiroler Sanitätsbetrieb konfrontiert ist, erahnen lässt:

14. April 2016: Die „Dolomiten“ berichten, dass 39 Jungärzte ohne Facharztausbildung Diagnosen stellen und Therapien verschreiben. Besorgt müsse man dennoch nicht sein, so die Direktorin des Gesundheitsbezirkes Meran Irene Pechlaner: „Es sind unsere Leute, sie sind unsere Zukunft, und die Bevölkerung kann absolut beruhigt sein. Die jungen Ärzte werden Schritt für Schritt an ihre Aufgaben herangeführt.“

23. April 2016: Der Gesundheitsbezirk Meran schreibt 19 neue Stellen für Ärzte und eine Primarstelle aus. Die Tageszeitung „Alto Adige“ – wachsame Hüterin der ethnischen Ausgewogenheit – stößt sich am Umstand, dass nur eine von 20 Stellen der italienischen Sprachgruppe vorbehalten sei. Das dürfe nicht hingenommen werden: Zuerst kommt der ethnische Proporz und dann die medizinische Versorgung. Reinhold Perkmann, Primar der Thorax-und Gefäßchirurgie am Bozner Krankenhaus kontert: „Immer diese Heilige Kuh Proporz! Ich weiß, es gibt Bereiche, da ist der Proporz wichtig, aber im Sanitätsbereich müssen wir pragmatischer werden.“

26. April 2016: Die „Dolomiten“ berichten, dass der Rechnungshof den Haushalt des Sanitätsbetriebes überprüft habe und dringend Reformen und mehr interne Kontrollen anmahne. Es gebe zu viele Abweichungen, die internen Kontrollen seien mangelhaft, die Berechnungen der Abfertigungsrückstellungen zu ungenau, die Unternehmensrisiken zu vage dargestellt. Landesrätin Martha Stocker parierte den Vorwurf mit der Feststellung: „Ich hoffe, dass man 2015 genauer hingeschaut hat.“

29. April 2016: Kaum ein Jahr im Amt, geht über Generaldirektor Thomas Schael ein Frühjahrsgewitter nieder. Die „Dolomiten“ berichten: „An Schaels Stuhl wird gesägt“, und im Vorspann wird eine (nicht namentlich genannte) Führungskraft mit den Worten zitiert: „Das sind nicht Einzelne, die am Stuhl von Schael sägen, das ist eine Säge-Industrie.“ Auch das Südtiroler Wochenmagazin „ff“ berichtet unter der Schlagzeile „Die Schläfer“: „Wie Südtiroler Ärzte versuchen, Generaldirektor Thomas Schael loszuwerden, und sich dabei selbst im Wege stehen.“ Die Tageszeitung „Alto Adige“ ergänzt: „La sanità è ferma al palo. Scaricabarile su Schael“ (Das Gesundheitswesen verharrt in den Startblöcken. Schuldzuweisung an Schael). Im Untertitel wird Landeshauptmann Arno Kompatscher mit den Worten zitiert: „Er ist kein Teamplayer, er muss die Ärzte und Primare stärker mit einbeziehen.“ Damit war Generaldirektor Schael gemeint, dem nun öffentlich und von höchster politischer Stelle fehlende Sozialkompetenz vorgeworfen wird. Zudem will die Tageszeitung „Alto Adige“ erfahren haben, dass zwischen Schael und Landesrätin Stocker eine neue Eiszeit ausgebrochen sei.

7. Mai 2016: Die „Dolomiten“ machen mit der Schlagzeile „Die Gefäßchirurgie-Notfälle nach Bozen“ auf. Auslöser dieser überraschenden Maßnahme war der Personalnotstand im Brixner Spital, das dank hoher Qualität jahrelang die Patienten von Bozen nach Brixen lockte. Das Krankenhaus muss nun offenbar zur Kenntnis nehmen, dass diese Erfolgsgeschichte zu Ende geht.

28. Juni 2016: Die Tageszeitung „Alto Adige“ berichtet, dass vier Ärzte des Sterzinger Krankenhauses vor Gericht erklären müssen, wieso sie Krebspatienten operiert haben, obwohl sie nach Ansicht von Sanitätsdirektor Oswald Mayr die Voraussetzungen nicht erfüllten. Mayr stützt sich auf internationale Studien und Standards, denen zufolge die Sicherheit der Patienten nicht gewährleistet ist, wenn Ärzte bestimmte Eingriffe zu selten durchführen, weil ihnen dann die notwendige Erfahrung fehlt.

1. Juli 2016: Die Tageszeitung „Alto Adige“ berichtet, dass Staatsanwältin Donatella Marchesini gegen sechs Ärzte des Zentralkrankenhauses in Bozen ermittelt. Anlass ist der Tod einer Frau, die man kurz zuvor stationär aufgenommen hatte. Den Ärzten wird fahrlässige Tötung vorgeworfen.

21. Juli 2016: Unter der Schlagzeile „Monatelanges Warten“ berichtet die „Tageszeitung“ über ein Thema, das seit Jahren für Unmut sorgt: die langen Wartezeiten. „In rund 30 Südtiroler Krankenhausabteilungen beträgt die Vormerkzeit für fachärztliche Visiten mehr als 100 Tage.“ Die Spitzenreiter sind: Für (nicht dringende) Augenvisiten warten Patienten in Sterzing 314 Tage, in Bozen 226 Tage, in Brixen 194 Tage und in Meran 164 Tage. Für eine dermatologische Visite müssen Patienten in Bozen 156 Tage warten, für eine Koloskopie in Meran 151 Tage, für eine Hals-Nasen-OhrenVisite in Brixen 181 Tage, für eine Herzuntersuchung in Brixen 218 Tage, für eine neurologische Visite in Sterzing 111 Tage, für eine pneumologische Visite in Meran 128 Tage, für eine Rheumatologische Visite in Bozen 251 Tage und für eine urologische Visite in Brixen 132 Tage.

15. Oktober 2016: Die Südtiroler Medien berichten von einem Autounfall, bei dem eine 63 Jahre alte Frau ums Leben kommt. Sie wollte eine Straße überqueren und wurde dabei von einem Auto erfasst. Die Sanitäter des Roten Kreuzes und auch die Männer der Feuerwehr waren innerhalb weniger Minuten an der Unfallstelle. Nicht aber der Notarzt, dieser traf knapp eine Stunde später ein. Der Grund: Im Jahr davor hatte die Landesregierung den Notarztdienst in Gröden abgeschafft. Die Frau erlag ihren Verletzungen auf dem Weg ins Krankenhaus. Im Nachhinein fragten sich viele, ob sie vielleicht überlebt hätte, wenn der Notarzt früher gekommen wäre und die Landesregierung nicht an der Sparschraube gedreht hätte.

10. November 2016: Die „Dolomiten“ berichten, dass die Facharztausbildung in Südtirol vor dem Aus stehe. Der Grund: Nach Ansicht der Österreichischen Ärztekammer würden „die Südtiroler Spitäler nicht die vorgesehenen Voraussetzungen für die Absolvierung der Ausbildungszeit erfüllen“. Den Vizepräsidenten der Südtiroler Ärztekammer, Andreas von Lutterotti, erfüllt diese Entwicklung mit Sorge: „Ohne Ausbildungsmöglichkeiten in Südtirol gehen unsere Jungärzte weiß Gott wohin, um ihren Facharzt zu machen, und wer weiß, ob sie dann wieder zurückkommen.“ Eine Antwort auf diese Frage folgte zwei Monate später. In einem Brief an Landesrätin Stocker und Generaldirektor Schael erklärten 158 Südtiroler Medizinstudenten und Jungärzte, was ihnen an dem „maroden System“ nicht gefällt und wieso es ihnen trotz Personalmangels und verzweifelter Personalsuche so schwer gemacht wird, nach dem Studium in Südtirol zu arbeiten, obwohl sie hier zu hause sind und die „wahnsinnige Schönheit Südtirols“ lieben. Ein Grund neben vielen anderen: die fehlende Facharztausbildung. Und sie fügen hinzu: „Die Südtiroler Krankenhäuser erreichen nicht das nötige Niveau, um eine teilweise Ausbildung zu jedwedem Facharzt zu ermöglichen.“ Die Reaktionen auf dieses harsche Urteil erfolgten prompt. Primare, Landesrätin Stocker und Generaldirektor Schael, ja selbst Landeshauptmann Arno Kompatscher wiesen diesen Vorwurf als ebenso „anmaßend wie ungerechtfertigt“ zurück.

Nicht so der Primar der Urologie am Krankenhaus Bozen, Armin Pycha. Er hatte vor 17 Jahren seine akademische Laufbahn im Ausland beendet und war nach Südtirol zurückgekehrt. Eine Entscheidung, die er heute bereut, wie er am 15. März 2017 dem Sender „Rai Südtirol“ gegenüber sagte. Und Jungärzten, die mit dem Gedanken spielen, nach Südtirol zurückzukommen, rät er dringend davon ab. Seine Begründung: Südtirols Spitäler sind für Jungärzte nicht attraktiv genug.

November 2016: Sanitätsdirektor Oswald Mayr war mit Ende Oktober in den Ruhestand getreten; bis Jahresende musste also ein Nachfolger gefunden werden. Die Landesregierung hatte deshalb eine fünfköpfige Expertenkommission eingesetzt, die unter fünf Kandidaten den besten aussuchen sollte. Was sich so einfach anhört, wurde zu einem „Schlag ins Gesicht“ der fünf Kandidaten, schreibt der Sprecher der Primarvereinigung in Südtirol, Hubert Messner, in einem E-Mail an seine Kollegen, das die „Tageszeitung“ auszugsweise veröffentlicht hat: „Die Landesrätin hat […] nach einem ausführlichen Gespräch, in dem ich unsere Ablehnung des Geschehens, unser Missfallen, unsere Frustration, unsere Sorgen und den Vertrauensverlust sei es in die Politik wie in die Betriebsführung ganz klar ausgesprochen habe, versichert, dass […] die Besetzung der Stelle des Sanitätsdirektors zeitgemäß […] erfolgen wird.“ Erneut bemühte sich Landeshauptmann Kompatscher um Schadensbegrenzung, indem er öffentlich betonte, dass die Kommission keineswegs die Unfähigkeit der Kandidaten festgestellt habe; die Schwierigkeit habe allein darin bestanden, dass sich die Kommission nicht auf einen der fünf Kandidaten einigen konnte. Dennoch, der Imageschaden war groß, und er wurde nicht kleiner, als bekannt wurde, dass sich etwa zur gleichen Zeit Generaldirektor Thomas Schael in Turin – erfolglos – um den Posten eines Generaldirektors beworben hatte. „Im Südtiroler Sanitätsbetrieb wurden die fünf Bewerber für den Posten des Sanitätsdirektors für ungeeignet befunden, und jetzt stellt sich heraus, dass auch unser Herr Generaldirektor nicht geeignet ist“, kommentierte halb amüsiert, halb schadenfroh der Vorsitzende des Autonomen Südtiroler Gewerkschaftsbundes Tony Tschenett. Andere fragten sich: Was ist bloß im Südtiroler Sanitätsbetrieb los, wenn der Generaldirektor schon nach einem Jahr das Handtuch wirft und sich um einen neuen Job bewirbt?

3. Jänner 2017: Unter der Schlagzeile „So kann man nicht arbeiten“ berichten die „Dolomiten“ über eine neue „Konfrontation zwischen dem Gesundheitsressort und den Basisärzten im Wipptal, die sich weiter zuzuspitzen [scheint]“. Grund dafür: Weil mehrere Hausärzte in Pension gegangen waren, mussten andere Hausärzte die Versorgung von rund 1.000 Menschen übernehmen. Das Gesundheitsressort beschloss daraufhin eine Übergangsregelung, ohne sich mit den betroffenen Hausärzten abzusprechen. „Man hat über unsere Köpfe hinweg entschieden“, wird Robert Hartung, Hausarzt in Sterzing, zitiert. Seit Monaten hätten er und seine Kollegen immer wieder das Gespräch mit der Landesrätin und mit dem Ressortdirektor gesucht. Vergeblich.

6. Jänner 2017: Der Sanitätsbetrieb beschäftigt 230 Ärzte und über 100 Pfleger mittels Werksverträgen, häufig auch deshalb, weil die dringend benötigten Ärzte und Pfleger die vorgeschriebene Zweisprachigkeit nicht nachweisen können – was nach Auskunft von Gesundheitslandesrätin Stocker auf immerhin 232 Ärzte zutrifft. Nun steht dem Sanitätsbetrieb eine Rekurslawine ins Haus, unkt die Ärztegewerkschaft ANAAO. Der Grund: Eine Tierärztin hatte 2016 beim Arbeitsgericht mit Erfolg alle Sozialabgaben (Renteneinzahlung, 13. Monatsgehalt, Urlaub, Krankengeld) eingeklagt – in Summe 100.000 Euro für sechs Jahre.

11. Jänner 2017: Die Abteilung für Innere Medizin am Bozner Krankenhaus steht kurz vor dem Kollaps (siehe dazu auch Kap. 11). In einem offenen Brief prangern 15 Ärzte die in ihren Augen untragbare Situation auf der vollkommen überlasteten Abteilung an. Seit Jahren mache Primar Christian Wiedermann die gesundheitspolitisch Verantwortlichen auf das „chronische Chaos“ aufmerksam, aber nichts geschehe. Weil sie keinen anderen Ausweg mehr sehen, wenden sich die verzweifelten Ärzte an die ANAAO mit der Bitte, alles Notwendige in die Wege zu leiten, damit sie wenigstens von rechtlicher Seite keine bösen Überraschungen zu befürchten haben.

Die Vertreibung des früheren Generaldirektors

Kurze Rückblende: Herbst 2014. Der neue Generaldirektor Thomas Schael hatte seinen Dienst angetreten, als der alte, Andreas Fabi, noch im Einsatz war. Wer angenommen hatte, dass es zwischen Fabi und der Landesverwaltung eine einvernehmliche Trennung geben würde, wurde eines Besseren belehrt. Fabi hatte mit Landesrätin Stocker vereinbart, dass er als Generaldirektor zurücktritt, um für Schael Platz zu machen. Im Gegenzug sollte er einen neuen Aufgabenbereich übernehmen und 170.000 Euro brutto jährlich verdienen. Doch es kam anders.

Die Vereinbarung mit Landesrätin Stocker erwies sich als leeres Versprechen: Fabi befand sich über Nacht im unfreiwilligen Wartestand ohne Einkommen und ohne Pensionseinzahlungen. Fabi fühlte sich hintergangen und beauftragte Anwalt Gianni Lanzinger, beim Arbeitsgericht Rekurs einzulegen. Zwei Jahre später, im Oktober 2016, fand vor dem Arbeitsgericht das erste Schlichtungstreffen statt. Arbeitsrichterin Francesca Muscetta stützte Fabis Position und forderte die Parteien – in erster Linie die Landesregierung – auf, eine einvernehmliche Lösung zu finden, da der Weg durch die gerichtlichen Instanzen lang, schmerzhaft und teuer sei. Die Landesregierung sah sich nun zum Einlenken gezwungen.

Für Fabi, der über 30 Jahre im Sanitätsbetrieb Führungsaufgaben wahrgenommen hatte, war das Arbeitsgericht der (vorläufig) letzte Schritt eines schmerzhaften Ausstiegs. Begonnen hatte der Streit im Frühjahr 2014. Fabis Berechnungen hatten ergeben, dass im Sabes-Haushalt ein Loch von 35 Millionen Euro klafft. Doch anstatt die 35 Millionen zu bewilligen, wollten Landesrätin Martha Stocker und der damalige Ressortdirektor Thomas Mathà – beide hatten im Winter 2014 die politische Verantwortung für das Südtiroler Gesundheitswesen übernommen – vom bewilligten Budget acht Millionen Euro streichen. In der Sabes-Bilanz würden dann nicht 35, sondern 43 Millionen Euro fehlen.

„Aber wo soll ich das Geld hernehmen“, klagte Fabi gegenüber den „Dolomiten“, „ich habe keinen Spielraum. Die Spitäler, die Primariate, die Sprengel, alles ist vom Land politisch vorgeben, das gilt auch für die Gehälter der Sanitätsangestellten, denn auch die Löhne werden nicht von mir, sondern vom Land vereinbart.“ Fabi blieb nichts anderes übrig, als erneut einen Sparvorschlag zu unterbreiten. Diesen fegte Ressortdirektor Mathà vom Tisch, indem er Fabi über die Medien ausrichten ließ, dass es sich dabei um „keinen Geistesblitz“ handle. Fabi antwortete, dass er nun auf die „Geistesblitze“ des Assessorates warte.

Für Außenstehende ist kaum nachvollziehbar, was sich hinter den Kulissen abspielt. Die Reaktionen auf die unzähligen Presseberichte und Polemiken des Jahres 2016 schwanken zwischen Staunen, Entsetzen und Sorge um das Südtiroler Gesundheitswesen. Einer unter vielen, denen „der Kragen platzte“ und die das „Schmierentheater“ nicht mehr mit ansehen wollten, war der ehemalige Geschäftsführer der Würth Italien GmbH Anton Seebacher. Er forderte auf den Leserbriefseiten der „Dolomiten“ Landeshauptmann Kompatscher auf, Generaldirektor Schael, diesen „aus Crotone importierten ‚Fliegen-Germanen‘ postwendend“ (Schael trägt mit Vorliebe Fliege statt Krawatte) nach Crotone zurückzuschicken. Außerdem solle er „die heillos überforderte und frustrierte Landesrätin Martha Stocker von der Sanitätsverantwortung“ entbinden. Mit Blick auf die „Akte Fabi“ fordert er den Landeshauptmann auf: „Säubern Sie diesen Augiasstall“ und „Geben Sie den Ärzten ihr Ansehen zurück.“

Seebachers Leserbrief zeigt beispielhaft, wie groß der Unmut in weiten Teilen der Bevölkerung ist. Trotzdem bleibt verwunderlich, dass ein erfahrener und besonnener Wirtschaftstreibender wie Seebacher einen Ton wählt, der nur noch vom Stammtisch und von anonymen Bloggern überboten wird.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Zwei Tage später konnte man das Ergebnis einer abgesprochenen Aktion unter dem Titel „Werden international um Qualität beneidet“ lesen. Unterschrieben war der Leserbrief von elf Pflegedienstleitern und den Koordinatoren der vier Gesundheitsbezirke. „Der Stil des Herrn Seebacher ist jeglicher Reaktion unwürdig“, und es sei „nicht tolerierbar, dass hier öffentlicher Rufmord gegen Personen geführt wird, die ihre gesamte Energie für die zeitgemäße Aufrechterhaltung eines öffentlichen Gesundheitswesens aufwenden“. Die Pflegedienstleiter und Koordinatoren werfen Seebacher „Volkshetze“ vor und legen Wert auf die Feststellung, dass „Dr. Fabi die Basis für einen modernen Einheitsbetrieb mit einer geradezu revolutionären kollegialen Führungsstruktur geschaffen [hat], für die wir international beneidet werden“.

So unterschiedlich können Wahrnehmungen sein. Besorgniserregend jedoch ist die verbale Grobheit, mit der Meinungsverschiedenheiten öffentlich ausgetragen werden. Nicht wenige fragen sich besorgt, wie unter diesen Voraussetzungen ein so sensibler Bereich wie das Gesundheitswesen auf Dauer gute Ergebnisse liefern kann.

Für den früheren Sanitätskoordinator Karl Lintner sind die „Symptome“, die in dieser erregten Diskussion sichtbar werden, verständlich: „Das Südtiroler Gesundheitswesen steckt seit Jahren in einem ‚Dauer-Reform-Modus‘, wir haben seit fast 20 Jahren keine homogene und auf die Zukunft ausgerichtete Gesundheitspolitik. Entscheidungen sind häufig situationsbezogen und meist nicht nachvollziehbar.“ Das strapaziere die Nerven und führe zu Belastungen, die vermeidbar wären. „Was es dringend braucht, das ist eine klare Ansage, wohin die Reise geht.“

Mittlerweile ist es auch für Außenstehende nicht mehr zu übersehen, dass in einigen Südtiroler Krankenhäusern, allen voran im Krankenhaus Bozen, einiges im Argen liegt. „Hört man sich im Bozner Krankenhaus auch nur ein wenig um, spürt man sofort, dass die Stimmung im Keller ist“, schreibt der frühere Vizebürgermeister von Bozen und SVP-Fraktionssprecher im Südtiroler Landtag Elmar Pichler Rolle in einem „Dolomiten“-Leserbrief. „Die Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter liegt bei null. Verdiente Primare quittieren ihren Dienst, während das nichtmedizinische Personal nur noch Dienst nach Vorschrift verrichtet. Auf Nachfrage wird – ohne lange Umschweife – der Herr Generaldirektor für diese missliche Lage verantwortlich gemacht. Aufgrund meiner politischen Erfahrung“, schreibt Pichler Rolle weiter, „kann ich mir aber nicht vorstellen, dass diese Situation nicht längst auch jenen bewusst ist, die die Berufung Schaels zu verantworten haben. Nun kann man alles treiben lassen und dabei in Kauf nehmen, dass weitere Ärzte das Bozner Krankenhaus verlassen. Verantwortungsvoll ist derlei Nichtstun aber auf keinen Fall.“ Der Wink mit dem Zaunpfahl an die Adresse von Parteifreundin und Gesundheitslandesrätin Martha Stocker könnte deutlicher kaum sein.

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Viele Ärzte resignieren und kehren Südtirol den Rücken.

Droht Südtirol auf Jahre hinaus ein Ärztemangel?

„Krankenhäuser sehen sich im Bereich der Personalrekrutierung vor immer größere Probleme gestellt. Der eklatante Mangel an qualifizierten Ärztinnen und Ärzten führt dazu, dass immer häufiger personelle Engpässe entstehen und über lange Zeiträume ärztliche Planstellen nicht besetzt werden können. Überstunden sind für Klinikpersonal derzeit an der Tagesordnung, eine ausgewogene Work-Life-Balance ist zu Lasten der Familie meist nicht realisierbar und eine bestmögliche Patientenversorgung nur schwer zu gewährleisten. Die daraus resultierende Unzufriedenheit der Ärztinnen und Ärzte in Krankenhäusern nimmt stetig zu.“

Das ist keine Erhebung, bei der Südtiroler Ärzte nach ihrem Wohlbefinden und ihrer Zufriedenheit befragt worden wären. Der Text stammt aus einer Studie, die 2012 mit mehr als 2.100 Ärzten in deutschen Krankenhäusern zum Thema Arbeitsplatzzufriedenheit und -attraktivität durchgeführt worden ist und die später das „Deutsche Ärzteblatt“ veröffentlicht hat. Die befragten Ärzte, versichern die Studienmacher, repräsentieren einen Querschnitt der Berufsgruppe mit Blick auf Alter, Geschlecht, Fachrichtung und Anzahl der Berufsjahre, Trägerschaft, Bettenanzahl und Größe des Ortes.

Ein zentrales Ergebnis der deutschen Studie: 70 Prozent der Ärzte bewerten ihren Arbeitsplatz als attraktiv, aber nur 60 Prozent sind mit den Arbeitsbedingungen zufrieden. Knapp 40 Prozent denken öfter daran, den Arbeitgeber zu wechseln, und 70 Prozent der Befragten haben sich in den letzten drei Monaten aktiv über offene Stellen informiert. Wenig überraschend: Je höher die berufliche Position, desto größer die Zufriedenheit mit dem Arbeitsplatz. „So sind die Chefärzte im Durchschnitt zufriedener und haben eine höhere Verbundenheit zum Arbeitgeber als die Oberärzte, die wiederum ihren Arbeitsplatz positiver bewerten als die Assistenzärzte“, schreibt der Autor der Studie Professor Holger Buxel von der Fachhochschule Münster.

Auf die Frage, welche Faktoren den größten Einfluss auf die Zufriedenheit mit dem Arbeitsplatz haben, nennen die deutschen Ärzte das Betriebsklima an erster Stelle. An zweiter Stelle folgen die Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten, an dritter Stelle die Vorgesetzten und ihr Führungsstil und an vierter Stelle die Arbeitsbelastung. Knapp 44 Prozent sind mit der Arbeitszeitgestaltung unzufrieden.

45 Prozent der Ärzte erklärten, dass in ihrem Arbeitsbereich die gesetzlichen und vertraglich vereinbarten Arbeitszeitregelungen nicht eingehalten werden, 70 Prozent der Befragten empfinden die Belastung als sehr hoch. 62 Prozent geben an, dass sie so viel Arbeit zu erledigen haben, dass sie die vorgesehenen Ruhepausen nicht einhalten können. Wenig beruhigend ist auch, dass 38 Prozent der Ärzte den Eindruck haben, die Arbeit lasse ihnen nicht ausreichend Zeit für eine angemessene medizinische Versorgung der Patienten. Auch den Umfang der Verwaltungsarbeit, die über die berufliche Dokumentation hinausgehe, bewerten drei Viertel der Ärzte als sehr hoch.

Zufriedenheit von Ärzten und Pflegern am Krankenhaus Bozen

Das alles kommt einem vertraut vor. Ein objektiver Vergleich mit der Südtiroler Situation ist leider nicht möglich, obwohl der Sanitätsbetrieb 2016 eine Befragung durchgeführt hat. Die Mitarbeiter mussten per E-Mail die Fragen beantworten und dabei ihren Namen, die Matrikelnummer und das Geburtsdatum angeben. Anonymität war damit keine gegeben, entsprechend gering war die Rücklaufquote: 26 Prozent. Eine schnelle Befragung in der Krankenhaus-Cafeteria hätte die gleiche Aussagekraft.

Es gibt noch eine weitere Befragung, die mit Ärzten und Pflegern im Bozner Krankenhaus durchgeführt worden ist und die man streng unter Verschluss hält. Demnach glauben nur 63 Prozent der Ärzte, dass bei ihren Vorgesetzten Verbesserungsvorschläge willkommen sind. Dabei ist der offene Umgang mit Fehlern für die Patientensicherheit von größter Bedeutung. Dazu folgender Hinweis: Auf europäischer Ebene „kommt es bei acht bis zwölf Prozent der in Krankenhäusern eingelieferten Patienten während der Behandlung zu Zwischenfällen“ und „bei einem von 20 stationären Patienten zu therapieassoziierten Infektionen“, schreibt die EU-Kommission und empfiehlt dem Europäischen Rat dringend, Maßnahmen zur Patientensicherheit zu beschließen.

Drei Viertel der am Bozner Krankenhaus tätigen Ärzte gab außerdem an, sie wüssten, wie sie auf ihrer Abteilung vorgehen müssen, um Fragen zur Patientensicherheit anbringen zu können. Aber nur 52 Prozent der Ärzte