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Lotte Minck (*1960) ist von Geburt halb Ruhrpottgöre, halb Nordseekrabbe. Nach 50 Jahren im Ruhrgebiet und etlichen Jobs in der Veranstaltungs- und Medienbranche entschied sie sich, an die Nordseeküste zu ziehen. Erst kürzlich überkam sie heftiges Heimweh nach dem Ruhrpott, als sie nach Jahren auf dem Land zum ersten Mal in einen echten Stau geriet, der aus mehr als sieben Autos vor einer Ampel bestand und sich diese Bezeichnung dank einer halben Stunde totalen Stillstands redlich verdient hatte. Ihre Heldin Loretta Luchs und alle Personen in Lorettas Universum sind eine liebevolle Huldigung an Lotte Mincks alte Heimat.

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www.facebook.com/lotte.minck
www.lovelybooks.de/autor/Lotte-Minck/

Ruhrpott-Krimödien mit Loretta Luchs bei Droste:
Radieschen von unten
Einer gibt den Löffel ab
An der Mordseeküste
Wenn der Postmann nicht mal klingelt
Tote Hippe an der Strippe
Cool im Pool
Die Jutta saugt nicht mehr
Voll von der Rolle

Lotte Minck

Mausetot im
Mausoleum

Eine Ruhrpott-Krimödie mit Loretta Luchs

Droste Verlag

Vielen Dank!
In diesem Band besucht Loretta die Astrologin Stella Albrecht, die gleichzeitig die Heldin einer neuen Krimödienreihe ist (siehe Leseprobe am Schluss). Für ihre große Unterstützung bedanke ich mich bei meiner langjährigen Freundin Monika Heer, deren Beruf die Astrologie ist. www.astrologos.de

Figuren und Handlung dieses Romans sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf
Umschlaggestaltung: Droste Verlag unter Verwendung einer Illustration von Ommo Wille, Berlin
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7700-4146-6

www.drosteverlag.de

Prolog

Unterwegs in einer anderen Welt – bei ziemlich hoher Luftfeuchtigkeit, aber irgendwas ist ja immer

Es war beinahe totenstill. Der Nebel war so dicht, dass ich die Bäume nur als graue Schemen wahrnahm. Er schluckte nicht nur die Farben, sondern auch die meisten Geräusche. Bis auf das Knirschen meiner Schritte hörte ich von Zeit zu Zeit einen Wassertropfen aus einer Baumkrone zu Boden platschen. Nur der Weg unter meinen Füßen bot ein gewisses Maß an Orientierung.

Erstaunlich, wie sehr sich der mir vertraute Park bei dieser Witterung veränderte. Er hatte sich in einen mystischen Ort aus blassen Grautönen verwandelt, an dem sich außer mir niemand aufzuhalten schien. Ich stellte mir vor, dass ich nie wieder herausfinden würde, weil ich mich unrettbar in dieser blickdichten Orientierungslosigkeit verirrte. Komischerweise war dieser Gedanke eher tröstlich als beängstigend. Der Nebel war wie ein Schutzschild oder ein Tarnumhang – wenn für mich alles unsichtbar war, musste ich es umgekehrt für alle anderen auch sein, oder? Unsichtbarkeit könnte mich schützen, vor den besorgten Fragen meiner Freunde nach meinem Befinden, zum Beispiel.

Fragen nach Pascal und mir, um genau zu sein.

Nach dem Stand unserer On-/Off-Beziehung, um ganz genau zu sein. Und wie sein endgültiger Auszug gestern Abend für mich gewesen war.

Mit anderen Worten: Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Oder wollte.

Jetzt gerade, an diesem frühen Sonntagmorgen im November, wollte ich nichts weiter tun, als durch den Nebel zu spazieren, ein paar Fotos zu machen und dann meinen besten Kumpel Frank in seinem Kiosk zu besuchen, der am Rand des Parks lag. Falls ich aus dieser dicken Suppe jemals wieder herausfinden würde.

An alle, die ein Abenteuer suchen: Das hier sind die wahren Fifty Shades of Grey, dachte ich grinsend und hob die Kamera, um eine diffuse Gruppe Baumstämme zu fotografieren, die sich nach oben hin ins Nirgendwo auflösten.

Klack. Das kurze, abgehackte Geräusch des Auslösers durchbrach die Stille, dann ging ich langsam weiter. Konzentriert scannte ich das Buschwerk am Wegesrand nach Spinnennetzen, die heute durch die hohe Luftfeuchtigkeit mit Hunderten Wassertröpfchen verziert waren.

Als ich ein Prachtexemplar von Netz entdeckte, stellte ich die Fototasche auf den Boden und hockte mich hin, um das Objektiv zu wechseln. Nachdem ich das Makro eingesetzt hatte, erhob ich mich und blickte durch den Sucher auf die Tautropfen. Das Objektiv surrte leise, als es sich automatisch einstellte – dank der völligen Windstille war das möglich. Ich kannte die Kamera noch nicht besonders gut, sodass ich die Automatikfunktion gerne in Anspruch nahm.

Ohne abgedrückt zu haben, nahm ich die Kamera wieder herunter, um das Motiv probeweise über das Display ins Visier zu nehmen.

»Ist es nicht ein Segen, dass man das Display herausklappen kann?«, sagte eine Stimme neben mir.

Eine Stimme aus dem Nichts. Ich hatte niemanden kommen hören.

Mit einem Aufschrei fuhr ich hoch. Vor Schreck ließ ich die Kamera los, aber der Trageriemen um meinen Hals bewahrte sie davor, auf den asphaltierten Weg zu knallen.

Sofort trat der Mann zwei Schritte zurück und hob die Hände, die Innenflächen in der international gültigen Ich-will-dir-nichts-tun-Geste mir zugewandt. »Ich muss mich entschuldigen, ich habe Sie erschreckt.«

Allerdings hast du das, du blöder Honk, dachte ich grimmig, die Rechte auf mein galoppierendes Herz gepresst. Ich war noch zu atemlos, als dass ich hätte antworten können.

»Ich bin davon ausgegangen, dass Sie mich bemerkt haben«, fügte er sichtlich zerknirscht hinzu. »Meine Schritte, meine ich.«

»Wie Sie sehen, habe ich Sie nicht bemerkt«, fauchte ich.

Was mir unter normalen Umständen sicherlich nicht passiert wäre, wie ich insgeheim konstatierte – er war nämlich ziemlich attraktiv. Dennoch: Ich war stinksauer auf ihn, weil er sich angeschlichen hatte. Aber wären sich nähernde Schritte im Nebel besser gewesen? Vermutlich nicht. Wahrscheinlich sogar noch furchteinflößender als sein unvermitteltes Auftauchen an meiner Seite.

Er stand da, glubschte mich durch seine Brillengläser an und wartete auf ein Signal von mir, dass ich ihm verzieh. Das war zumindest die einzige Erklärung, die mir einfiel. Irgendeinen Grund musste es schließlich geben, aus dem er sich nicht trollte. Sollte ich ihm die Absolution erteilen?

»Ich bin übrigens auch auf einem Fotospaziergang«, sagte er, drehte sich zur Seite und deutete mit dem Daumen über die Schulter auf seinen Rucksack. »Ich mag es, wenn die Welt um mich herum schwarz-weiß wird.«

»Und grau.«

Er nickte lächelnd. »Und grau.«

Ich lächelte zurück. »Vielleicht sollten wir einfach mal unsere Brillen putzen. Vielleicht stellen wir dann fest, dass es überhaupt nicht neblig ist, sondern unsere Gläser bloß total verschmiert waren.«

Seine Augen weiteten sich verblüfft, dann brach er in brüllendes Gelächter aus. »Sie sind mir ja ’ne Marke!«, schnaufte er schließlich und streckte mir die Hand hin. »Wenn ich mich vorstellen darf: Stefan Neumüller.«

Ich schlug ein. »Loretta Luchs.«

»Sind Sie häufiger hier unterwegs?«, fragte er.

Äh … stopp mal. Was sollte das werden – eine Anmache?

»Ab und zu«, erwiderte ich schmallippig.

»Ich wohne erst seit Kurzem in der Gegend«, sagte er. »Vielleicht könnten wir ja mal …«

Ich ließ ihn nicht ausreden, sondern warf einen Blick auf meine Armbanduhr und rief: »Ach herrje, so spät schon? Ich muss weiter. Hat mich gefreut.«

Ohne seine Reaktion abzuwarten, marschierte ich los. Fotos machen konnte ich auch auf dem Rückweg. Ein bisschen tat es mir für ihn leid, aber mir war gerade nicht nach Vielleicht-könnten-wir-mal, vollkommen egal, wie unverbindlich dieser Stefan Neumüller seinen Vorschlag gemeint hatte.

»Nix los heute Morgen«, sagte Frank zur Begrüßung, »kein Wunder bei so ’ne Suppe.«

Wenn er so aus seinem Verkaufsfenster guckte, wirkte es beinahe wie Kasperletheater, wie ich einmal mehr amüsiert feststellte. Fehlte nur noch, dass er »Naaa, liebe Kunden, seid ihr alle da?« quäkte und mit der Kasperklatsche um sich schlug, anstatt Süßigkeiten einzutüten.

»Wird schon werden«, sagte ich. »Es ist den Leuten heute draußen zu ungemütlich, die bleiben lieber etwas länger im Bett liegen. Waren denn die Gassigeher auch noch nicht da?«

»Klaro warn die da. Weißte doch selbst, die stehn immer um sieben auffe Matte, auch am Sonntach.«

Da ich immer mal zwischendurch sonntags die Frühschicht übernahm, wenn Not am Mann war, wusste ich natürlich Bescheid.

»Wollz’n Käffken?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Nee, lass mal. Ich mach mir gleich zu Hause einen richtigen Kaffee. Du weißt schon: einen richtig leckeren.«

Frank gackerte; um ihn ernsthaft zu beleidigen, müsste ich schon schwerere Geschütze auffahren als meine traditionelle Meckerei über seinen Kaffee.

Kapitel 1

Loretta steht vor einem Tribunal, aber eine Inquisition kann auch liebevoll gemeint sein, wie sie feststellt

»Fällt euch denn gar nichts ein, wie wir sie aufmuntern könnten?«, fragte Doris leise.

»Ich bin nicht taub! Ich kann euch hören!«, rief ich aus der Küche zu den anderen hinüber, die in Isoldes Wohnzimmer saßen.

Beinahe unglaublich, aber wir hatten es nach ewigen Zeiten geschafft, einen samstäglichen Kaffeeklatsch nur für uns Mädels zu organisieren. Endlich verbrachten wir mal wieder ein paar Stunden miteinander, ohne dass mindestens zwei unserer Kerle am Grill standen und mit Fleischbatzen um sich warfen. Stattdessen würden wir gleich verschiedene kleine Törtchen genießen. Sie waren appetitlich auf einer großen Platte arrangiert, die ich nun aus der Küche zum Kaffeetisch brachte. Isolde hatte für uns prachtvoll eingedeckt: mit traumhaft schönem Geschirr – einem Mitbringsel von einer ihrer Reisen –, Blumenschmuck aus Dahlien sowie farblich passenden Kerzen. Der Tisch war eine einzige Orgie aus flammenden Herbsttönen; sogar der Fondant-Überzug der Törtchen fügte sich harmonisch ins Bild.

Ich stellte die Platte ab und setzte mich. »Zum allerletzten Mal: Ihr müsst mich nicht aufmuntern. Es geht mir gut.«

Bärbel, Isolde und Doris wechselten wissende Blicke, die mir keineswegs entgingen.

»Niemandem, der Liebeskummer hat, geht es gut, Schätzchen«, sagte Doris. »Wir machen uns Sorgen.«

Ich gab meiner Stimme einen munteren Klang. »Wirklich, das müsst ihr nicht. Andere Mütter haben auch schöne Söhne.«

Wieder diese Blicke zwischen ihnen, dann legte Bärbel ihre Hand sanft auf meine. »Süße, du und Pascal … allmählich ist da mal eine endgültige Entscheidung fällig. Dieses ewige Hin und Her ist auf Dauer nicht gesund.«

Sagt mir doch mal was, das ich noch nicht weiß, dachte ich.

Sie hatten ja recht: Eigentlich waren Pascal und ich längst getrennt, aber uneigentlich kamen wir nicht voneinander los. Zwar wählte er zurzeit nur Jobs aus, bei denen er auf Reisen war, aber es gab immer wieder Treffen – wenn auch in größeren zeitlichen Abständen –, bei denen wir uns gegenseitig wort- und tränenreich versicherten, nicht ohne den anderen leben zu können. Oder zu wollen. Oder zu können glauben oder was weiß ich. Das war wirklich nicht gesund. Jedenfalls nicht auf Dauer.

Es war ja nicht so, dass ich meine Freunde ständig damit volllaberte, ganz im Gegenteil. Manchmal telefonierte ich mit Diana, meiner besten Freundin und ehemaligen Mitbewohnerin, die mittlerweile glücklich verheiratet an der Nordseeküste lebte. Das war auch schon alles. Diana war die Einzige, der ich anvertraute, wie ich mich fühlte – was sich durchaus von einem Tag zum nächsten komplett verändern konnte.

Das Problem war, dass es keine wirkliche Lösung für Pascal und mich gab. Bei aller Zuneigung füreinander passten unsere Lebensentwürfe nicht zusammen, ein anderes Wort dafür fällt mir nicht ein. Ich liebte es, Verbrechen aufzuklären, während Pascal schier ausflippte, wenn ich das tat. Er machte sich Sorgen um mich, und genau das wollte er nicht mehr. Das Vertrackte war, dass er mein mörderisches Hobby respektierte und mich keineswegs verändern wollte, und dafür mochte ich ihn umso mehr. Andererseits schaffte ich es nicht, Verbrechen beziehungsweise ihre Aufklärung zu ignorieren, was sogar schon dazu geführt hatte, dass ich Pascal belogen hatte. Bis heute ist mir das zutiefst peinlich, und völlig zu Recht war er stinksauer auf mich gewesen. Nicht nur das: Dank meiner dämlichen Prioritäten hatte ich ihn aus meinem Leben vertrieben. Jedenfalls als Partner. Und deshalb saß ich jetzt hier und wollte am liebsten ganz woanders sein. Irgendwo, wo der Beziehungsstatus zwischen Pascal und mir nicht das zentrale Thema war. Also überall, bloß nicht hier an der schönen, herbstfarbenen Kaffeetafel.

»Fotografierst du eigentlich gerne?«, fragte Isolde. Da sie mich ansah, war wohl ich gemeint.

»Hm … keine Ahnung«, erwiderte ich achselzuckend. Also gut, manchmal knipste ich mit meiner kleinen Digitalkamera so vor mich hin. Ich hatte sie auch schon für Tatort-Fotos benutzt oder um heimlich Bilder von Verdächtigen zu machen.

»Hättest du Lust, es mal auszuprobieren?« Isolde sah mich erwartungsvoll an, Bärbel und Doris ebenfalls.

Aha – daher wehte der Wind. Das war wohl nun die Idee, wie sie die arme Loretta aufmuntern könnten. Und vom Sofa an die frische Luft locken. Wusste man ja, dass frische Luft gegen depressive Verstimmungen helfen sollte. Tatsächlich hatte ich mich in den letzten Wochen zurückgezogen und viel Zeit allein zu Hause verbracht. Okay, das stimmte nicht ganz: Kater Baghira leistete mir Gesellschaft.

Allerdings hatte sich herausgestellt, dass die Abende und Nächte schwer auszuhalten waren, also hatte ich meinen Chef Dennis gebeten, mich für die Nachtschicht einzuteilen.

Wer nun meint, nachts sei an der Sexhotline mehr zu tun als tagsüber: Irrtum. Das Gegenteil war der Fall, denn nachts waren die meisten unserer Kunden brav daheim bei ihren Lieben, während sie ihre Anrufe bei uns gerne während ihrer Mittagspausen, mal zwischendurch vom Büro aus oder von unterwegs erledigten. Soweit jedenfalls meine Theorie, denn natürlich haben wir noch niemals eine Kundenbefragung durchgeführt. Aber mit den Jahren machte man sich halt so seine Gedanken über die Männer, die unsere Dienste in Anspruch nahmen. Um zum Beispiel darauf zu kommen, dass diejenigen, die sich bei uns als Boss mit devoter Sekretärin inszenieren ließen, im realen Leben vermutlich eher in untergeordneter Position tätig waren, musste man nicht Psychologie studiert haben.

»Hallo, Loretta, bist du noch bei uns?«

Isoldes Frage riss mich aus meinen Gedanken. »Sorry. Ob ich gerne fotografieren würde, wolltest du wissen, richtig?« Isolde nickte.

»Wieso? Will Maria mir ein Praktikum anbieten?«

»Quatsch. Du hast doch einen Beruf.« Sie stutzte und setzte hinzu: »Wärst du denn interessiert?«

Ein Praktikum bei einer der begehrtesten und höchstbezahlten Fotografinnen der Welt zu machen und ständig auf Reisen zu sein? Sorry, aber wer kümmert sich dann um meinen Kater? Spaß beiseite: Natürlich wäre das interessant. Aber vielleicht doch an mich vergeudet.

Ich schüttelte den Kopf. »Nee. Ist ja nicht so, dass ich seit Jahrzehnten für die Fotografie brenne, oder? Keine Ahnung, ob ich dafür ein Talent habe.«

»Dann solltest du es unbedingt ausprobieren!«, tirilierte Isolde und sprang auf. Sie eilte in einen Nebenraum und kehrte mit einer eckigen Umhängetasche zurück, die sie mir in die Arme drückte. »Bitte sehr! Von Maria und mir.«

Ich sah in die Tasche und entdeckte: eine Kamera und drei Objektive. Wie bitte? Weder stand mein Geburtstag ins Haus – der war im März –, noch fiel mir irgendein anderer Grund für ein derart kostspieliges Geschenk ein.

»Seid ihr verrückt? Das nehme ich nicht an«, sagte ich entschlossen und zog den Reißverschluss der Tasche wieder zu.

Isolde winkte ab. »Ist nur geliehen. Doris sagt, du machst jetzt erst mal Nachtschicht. Dann hast du doch tagsüber Zeit, spazieren zu gehen und Fotos zu machen.«

Ich warf Doris einen wütenden Blick zu, aber sie zuckte nur gleichmütig mit den Schultern. Die Vorstellung, dass meine Freundinnen sich hinter meinem Rücken über mich unterhielten und Pläne ausheckten, um mich zu beschäftigen, schmeckte mir nicht.

»Wenn ich nachts arbeite, schlafe ich tagsüber. Irgendwann muss ich schließlich schlafen.«

»Aber doch nicht den gesamten Tag, oder?«, fragte Bärbel. »Ich könnte mir vorstellen, dass es dir Spaß macht.«

Mir reichte es. »Was bin ich – euer offizieller Pflegefall, der eine Beschäftigungstherapie nötig hat?« Grimmig blickte ich in die Runde. »Ihr rottet euch konspirativ hinter meinem Rücken zusammen und …«

Doris hob die Hand, um mich zu unterbrechen. »Jetzt mach mal halblang, Loretta. Wir haben ja nicht gerade eine Intrige gesponnen, um dich loszuwerden, oder? Wir machen uns Sorgen um dich. Du wirst immer blasser und stiller. Du denkst doch nicht etwa, dass wir uns das kommentarlos angucken, ohne etwas zu unternehmen?«

So viel zu unserem gemütlichen Mädels-Kaffeeklatsch. Ich fühlte mich wie vor einer Prüfungskommission, die über mein seelisches Gleichgewicht zu befinden hatte. »Das ist ja wohl total übertrieben. Nur weil ich mal eine kurze Phase habe, in der ich mich ein bisschen zurückziehe, müsst ihr ja nicht gleich durchdrehen, oder?«

»Kurze Phase? Das geht jetzt schon einige Monate lang so«, sagte Bärbel. »Du vertraust dich uns nicht an, aber auch das haben wir respektiert, genau wie dein Bedürfnis nach Rückzug. Aber jetzt ist Schluss damit. Wir sind deine Freunde, und wir wollen, dass es dir endlich wieder besser geht.«

Vor meinem geistigen Auge entstand ein Bild: Ich stand barfuß, strubbelig, hornbebrillt und im Büßerhemd vor einer Empore, auf der meine drei Richterinnen saßen und mich streng musterten. Die stets glitzernde Doris mit ihrem feuerroten Haarschopf, die beinahe schon meine Großmutter sein könnte. Die klassische, höchst stilvolle Isolde, auch schon über sechzig, und die schmale, blonde Bärbel, mit Ende dreißig minimal jünger als ich, und Mutter von drei Kindern. Äußerlich betrachtet würde wohl kaum jemand auf die Idee kommen, dass wir beste Freundinnen waren, aber das Schicksal und diverse aufgeklärte Verbrechen der letzten Jahre hatten uns in dieser Konstellation zusammengewürfelt. Sie alle lebten in glücklichen und soliden Beziehungen, während ich …

Oh nein, nicht heulen, dachte ich entsetzt, als meine Augen plötzlich feucht wurden und die ersten Tränen auf meinen Kuchenteller tropften.

Zack – schon kramte Doris in ihrer Handtasche und legte dann ein Päckchen Papiertaschentücher neben meinen Teller. Schweigend warteten meine Freundinnen ab, bis ich mich wieder beruhigt und ordentlich geschnäuzt hatte.

»Du hast Liebeskummer«, sagte Isolde schließlich. »Und so kann es nicht weitergehen. Du musst aufhören, der Vergangenheit mit Pascal hinterherzutrauern. Du musst nach vorne blicken. Geh endlich zu Stella.«

Zustimmendes Gemurmel von Bärbel und Doris. Leider verstand ich kein Wort. »Wer bitte schön ist Stella? Und was soll ich dort?«

»Stella Albrecht ist die Astrologin, zu der ich dich schon seit fünf Monaten schicken will. Ich habe dir eine Beratung bei ihr geschenkt, erinnerst du dich?«

Ich schnaubte. »Eine Astrologin? Und die soll mir helfen? Wie denn, bitte? Ach, ich weiß: Die guckt in ihre Glaskugel und faselt dann was von einem großen blonden Prinzen, der schon hinter der nächsten Ecke auf mich wartet. Oder zieht irgendwelche geheimnisvollen Karten, in denen angeblich meine Zukunft steht. Danke, auf so einen Hokuspokus kann ich gut verzichten.«

»Hokuspokus?« Isolde hob die Brauen. »Du denkst, ich frequentiere regelmäßig jemanden, der mit Hokuspokus arbeitet? Ich dachte, du würdest mich besser kennen.«

»Ich war bei Stella«, warf Bärbel ein. »Und sie hat mich sehr beeindruckt.«

»Mich übrigens auch«, fügte Doris hinzu.

Na, super. Jetzt hatte ich drei auf einen Streich beleidigt, weil ich mich abwertend über eine Frau geäußert hatte, die ich nicht einmal kannte.

»Ihr wart bei einer Astrologin?«, fragte ich verdutzt, an Doris und Bärbel gewandt. »Wann denn? Das habt ihr mir gar nicht erzählt!«

»Natürlich nicht!« Doris verdrehte die Augen. »Wir sehen uns ja nur noch auf der Arbeit! Nur noch kurze Höflichkeitsbesuche bei unseren Festen, und dann gehst du auch schon wieder nach Hause. Immer hast du angeblich Kopfschmerzen oder bist müde. Niemand hat dir je einen Vorwurf gemacht, aber wir vermissen dich.«

»Aber ich bin doch hier«, murmelte ich, ehrlich betroffen.

»Schon.« Bärbel nickte. »Aber wir wollen die alte Loretta zurück, verstehst du? Die fröhliche Loretta. Meine Güte, du musst ja nicht ständig ein Feuerwerk der guten Laune abbrennen, aber du hast dich echt verändert.«

Es war mir nicht bewusst gewesen, dass ich meinen Freunden schon seit Monaten einiges an Verständnis abverlangte. Ging das wirklich schon so lange? Ich war offenbar derartig auf die Problematik zwischen Pascal und mir konzentriert gewesen, dass alles andere an mir nur vorbeigerauscht war. Ich sah meine Freundinnen an, in deren Gesichtern ich nichts als Zuneigung und echte Besorgnis entdeckte. Plötzlich schämte ich mich, ihnen Vorwürfe gemacht zu haben.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte ich. »Aber ich fühle mich so orientierungslos. Und ich nehme um mich herum kaum noch etwas wahr.«

»Ein Grund mehr, so bald wie möglich zu Stella zu gehen«, befand Isolde mit strenger Stimme. »Vielleicht kann sie dir ein wenig Orientierung geben. Und die Kamera wird dich vor die Tür locken und dir dabei helfen, deine Umgebung wieder zu sehen. Entdecke die Schönheit der kleinen Blümchen am Wegesrand.«

Kapitel 2

Loretta hat ihre ganz eigenen Theorien zur Ausbildung von Astrologinnen, und darin spielen Aluhüte und Einhörner eine wesentliche Rolle

Was ich sehr schnell herausfand, war Folgendes: Schwarze Katzen lassen sich ganz schlecht fotografieren. Meinen spontanen Plan, ein paar sensationelle Porträts von Baghira zu machen, gab ich so schnell wieder auf, wie ich ihn gefasst hatte. Warum? Ganz einfach: Auf den Bildern war er nur ein konturloser – meist verschwommener – Klumpen mit grünen Augen. Auch der Einsatz des Blitzes führte nicht zum gewünschten Ergebnis, denn dann sah er aus, als hätte ich ihn mit Öl übergossen, da sein tiefschwarzes Fell das grelle Licht ganz vortrefflich reflektierte.

Überdies reagierte er ziemlich ungehalten darauf, von mir mit der Kamera verfolgt zu werden. Dem Kater dermaßen auf die Pelle zu rücken und dazu noch zu erwarten, dass er stillhalten würde … nun ja. Klappte nicht. Mist.

Ich blätterte in dem Handbuch, das Isolde mir mitgegeben hatte. Es hatte die Ausmaße eines dieser handelsüblichen Schul-Atlanten und schüchterte mich ziemlich ein. Also beschränkte ich mich einstweilen darauf, nachzu-gucken, was die vielen Knöpfe am Korpus der Kamera bedeuteten, wie ich sie an- und ausschaltete und wie die Objektive gewechselt wurden. Aha, da unten saß der Akku … interessant. Zur Ausrüstung gehörten neben den zusätzlichen Objektiven ein Ladegerät und ein Ersatz-Akku.

Da Baghira kein lohnendes Model war, schlenderte ich durch die Wohnung und knipste alles Mögliche, um ein Gefühl für die Kamera zu bekommen. Schade, dass es im November schon so früh dunkel wird, denn ich würde jetzt zu gern … Moment mal. Kaum hatte ich das Gerät in der Hand, schon wollte ich runter vom Sofa und nach draußen. Also schien Isoldes Plan tatsächlich aufzugehen.

Aber das musste bis morgen warten. Ich machte es mir auf dem Sofa bequem und zappte durchs Fernsehprogramm. Nichts fesselte mich so richtig, und ich blieb bei einer Dokumentation hängen, in der ein Sprecher mit monotoner Stimme über deutsche Wälder referierte. Wunderbar einschläfernd, also kriegte ich fast einen Infarkt, als das Telefon klingelte. Zu meiner großen Freude war es Diana.

Ich erzählte ihr vom Kaffeeklatsch mit den anderen Mädels, und sie seufzte. »Ach, Loretta, so wohl ich mich hier oben im Norden fühle – das vermisse ich wirklich. Pack doch die wunderbaren Weiber mal alle ins Auto, und dann kommt ihr für ein Wochenende zu uns hoch, ja?«

»Oder du besuchst mich mal wieder.«

Oh … ich hatte mich gesagt, nicht uns. Bedeutete das etwa, dass ich mich innerlich von Pascal verabschiedete? Gab es für mich tatsächlich kein uns mehr?

Diana schwieg einen Moment lang. Hatte sie es auch bemerkt? Ja, hatte sie. »Du und Pascal … gibt’s was Neues zu berichten?«

Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf, dann fiel mir ein, dass sie es ja nicht sehen konnte. »Nein. Aber die Mädels haben mir heute ins Gewissen geredet. Isolde sagt, ich soll endlich mal zu dieser Astrologin gehen. Ich weiß nicht recht.«

»Wieso nicht?«

»Ich bitte dich. Astrologie. Man weiß doch, was man davon zu halten hat.«

»Nein, weiß ich nicht. Und was man davon hält, ist mir sowieso schnurz. Außerdem: Was hast du schon zu verlieren?«

»Meine Fassung, zum Beispiel? Da sitzt doch bestimmt so eine schräge Trulla mit Turban und wallendem Kaftan aus billigem Pannesamt, die mir irgendeinen Scheiß erzählt. Wie diese Witzfiguren bei Astro TV oder wie das heißt. Und dann versucht sie vermutlich, mir einen Stein am Lederband für 80 Euro anzudrehen, der angeblich ein Kraftstein ist und die schlechten Energien von mir weghalten wird, in Wirklichkeit aber bloß einer von diesen blöden Kieseln ist, die sie säckeweise im Baumarkt kauft. Gewinnspanne drölfzig Millionen Prozent. Du glaubst doch nicht, dass ich dabei ernst bleiben kann, die lache ich doch aus. Das wird ein Desaster.«

»Es geht doch um diese Stella, bei der Isolde auch manchmal ist, oder? Ich kann mir kaum vorstellen, dass Isolde sich einer Frau anvertrauen würde, wie du sie gerade beschrieben hast.« Diana kicherte und sagte dann: »Kraftstein am Lederband für 80 Euro, also wirklich. Du spinnst, Loretta, echt.«

»Hast du etwa noch nie im Fernsehen diese Gestalten gesehen, die angeblich Kontakt zu höheren Wesen haben und Botschaften von Erzengeln empfangen? Die haben doch allesamt einen an der Klatsche. Ein Wunder, dass sie keine Hüte aus Alufolie tragen. Was sie privat vermutlich tun, nur vor der Kamera nicht. Weil sie ja seriös wirken wollen. Ha.«

Diana quiekte vor Lachen. Als sie sich wieder eingekriegt hatte, sagte sie: »Ich glaube, du wirfst da ein paar Sachen durcheinander, meine Liebe. Ganz sicher gibt es in dieser Branche eine Menge Scharlatane, das will ich nicht bestreiten. Natürlich kann auch ich nicht gutheißen, dass sie gutgläubigen, hilfesuchenden Menschen das Geld aus der Tasche ziehen, das ist erbärmlich. Aber Isolde sagt, mit dieser Stella ist es eher, als würde man mit einer Therapeutin reden.«

»Wenn ich mit einer Therapeutin reden will, dann gehe ich zu einer Therapeutin. Dafür gibt es die nämlich, stell dir vor. Die haben das gelernt. Und nicht auf einer Zauberschule studiert, bei der auch die korrekte Pflege von Einhörnern auf dem Stundenplan steht.«

Diesmal ließ sie vor Lachen den Hörer fallen, jedenfalls hörte es sich so an. Es rumpelte und krachte, dann sagte sie kichernd: »Aluhüte und Einhörner, also wirklich! Aber noch einmal: Was hast du zu verlieren? Nichts. Noch nicht einmal Geld, weil Isolde dir den Besuch bei der Astrologin schenkt, was ich ausgesprochen nett finde. Schon aus Respekt vor Isolde solltest du dieses Geschenk annehmen. Eine Phrase wie ›Man weiß doch, was man davon zu halten hat‹ ist echt dämlich. Sei nicht so verflucht spießig, Loretta.«

Holla, der Treffer saß. Ich? Spießig? Gut, ich hatte jede Menge Vorurteile und bildete mir ein Urteil, ohne diese Stella überhaupt jemals getroffen zu haben. Und ja, ich hatte eine Phrase gedroschen. Oh mein Gott, ich war tatsächlich spießig!

»Keine Sorge, ich habe mir vorgenommen, diese Stella zumindest mal kennenzulernen«, sagte ich. »Ganz unverbindlich. Und dann entscheide ich, ob ich diese Beratung bei ihr mache. Zufrieden?«

Diana lachte leise. »Gutes Mädchen. Aber es geht nicht darum, dass ich zufrieden bin. Dir soll es wieder besser gehen, Süße. Du igelst dich jetzt seit Monaten ein.«

»Isolde hat mir heute eine Kamera aufgedrängt, damit ich wieder vor die Tür gehe.«

»Das ist doch super!«, rief Diana – eine Spur zu munter für meinen Geschmack. Vermutlich war sie ohnehin an diesem Komplott beteiligt. »Raus in die Natur, das wird dir Spaß machen. Du weißt ja: Ich habe das Fotografieren auch für mich entdeckt.«

Ja, das wusste ich, denn sie überflutete mich per Mail mit wunderbaren Fotos vom Strand, von Sonnenauf- und – untergängen, Nordseewogen und Wolken bis zum Horizont. Und natürlich von ihrem struppigen Hund Heini, der eigentlich ihrem Gatten Okko gehörte. Heini, wie er ganz süß guckte, schlief, bettelte oder einfach nur auf seinem kleinen Hintern saß, wie er im Sand buddelte oder ein Stück Treibholz herumschleppte.

»Ich bin gespannt auf deine ersten Fotos«, fuhr sie fort, »die musst du mir unbedingt sofort schicken.«

»Vielleicht schon morgen. Ich will in den Park gehen.«

»Perfekt. Und ich will dann alles über dein Treffen mit der Astrologin wissen, hörst du? Brühwarm und detailliert. Versprochen?«

»Versprochen.«

Als hätte ich Diana jemals etwas abschlagen können.

Um am nächsten Morgen mit dem Sonnenaufgang losgehen zu können, hatte ich mir den Wecker gestellt. An einem Sonntag. Freiwillig.

Während Baghira laut schmatzend sein Frühstück verdrückte, hockte ich missmutig am Tisch, schlürfte meinen Espresso und hätte mich ohrfeigen können. Rechts und links, aber so richtig mit Schmackes. Draußen erhellte das erste Morgenlicht den Himmel, und ich hatte auf kaum etwas weniger Lust, als jetzt durch den Park zu latschen. Was gestern Abend noch ein guter Plan gewesen war, erschien mir nun in der Morgendämmerung völlig hirnrissig. Warum zum Teufel hatte ich den Wecker auf sieben Uhr gestellt? Warum lag ich jetzt nicht in meinem schönen warmen Bett und zog mir die Decke über den Kopf? Weil ich mich hatte bequatschen lassen.

Nein, weil du dich nicht länger hängenlassen willst, sagte meine innere Stimme.

Hm … das stimmte so nicht. Die anderen wollten, dass ich mich nicht mehr hängenließ – ich selbst hatte mich in diesem Zustand komfortabel eingerichtet und fühlte mich dabei nicht einmal besonders unwohl. Gut, es hatte in meinem Leben schon fröhlichere Zeiten gegeben. Aber das war doch ganz normal, dass man zwischendurch mal durchhing, oder?

Nur Comedians hatten fortwährend gute Laune, aber die wurden auch gut dafür bezahlt. Außerdem hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass die meisten Komödianten depressiv waren. Aber dann gab es noch diese Moderatoren im Frühstücksfernsehen, die ich wegen ihres Dauergrinsens manchmal wegschalten musste, weil ich es schlicht nicht aushielt. Das konnten meine Freunde doch nicht ernsthaft wollen, dass ich permanent grinste und so tat, als wäre das Leben nichts als Zuckerwatte und Lollipops.

Irgendwie war ich in Rage geraten und schnaubte lautstark. »Ich bin doch nicht euer Pausenclown, verdammt. Lasst mir gefälligst meine schlechte Laune.«

Baghira, der sich vermutlich angesprochen fühlte, drehte sich zu mir um und starrte mich aus großen runden Augen an.

»Brauchst gar nicht so zu gucken«, sagte ich. »Ja, es ist so weit: Deine Dosenöffnerin redet mit sich selbst. Und? Was willst du dagegen machen?«

Offensichtlich nichts, denn er drehte sich desinteressiert wieder weg und fraß weiter. Wäre er dazu in der Lage gewesen, mit den Schultern zu zucken, hätte er es wohl getan.

»Weißt du was?«, ereiferte ich mich weiter, »scheiß auf den Park. Ich latsche doch jetzt nicht los, weil die das wollen! Ich gehe zurück ins Bett. Ich verbringe meinen verdammten Tag, wie ich das will.«

Hörst du dir eigentlich selbst zu, Loretta? Kriegst du mit, welchen Unfug du gerade laberst?, meldete sich meine innere Stimme wieder zu Wort.

Prompt kam ich mir blöd vor. Hier saß ich nun und schmollte vor mich hin, völlig idiotisch. Wem wollte ich hier etwas beweisen?

»Loretta macht sich zum Vollhorst – das Soloprogramm«. Demnächst auch in Ihrem Theater.

Jetzt aber Schluss mit dem Quatsch, befahl ich mir selbst. Und siehe da – ich gehorchte. Brav spülte ich meine Tasse aus und stellte sie ins Spülbecken, dann schlüpfte ich in eine warme Jacke und hängte mir die Fototasche über die Schulter.

Die Haustür fiel hinter mir ins Schloss, und ich atmete tief durch. Es war erfrischend, aber nicht zu kühl. Manchmal konnte sich der November – besonders zu Anfang – ja nicht so recht entscheiden, ob er noch zum Sommer gehören oder bereits winterliche Merkmale zeigen wollte. Heute neigte sich die Waagschale eindeutig in Richtung Sommer, und das gelbe Laub, das die Straßenbäume bereits abgeworfen hatten, raschelte unter meinen Füßen. Auch auf meinem Auto, das ich ein paar Meter die Straße hoch geparkt hatte, türmten sich trockene Blätter, die aber rasch herunterwehen würden, sobald auch nur ein wenig Wind aufkam.

Als ich daran vorbeischlenderte, stutzte ich, denn etwas zwischen den Blättern auf der Frontscheibe erregte meine Aufmerksamkeit. Durch die herbstlichen Gelb- und Brauntöne blitzte ein leuchtend grünes Blatt, das keinesfalls hier vom Baum gefallen sein konnte. Mit der Hand wischte ich vorsichtig das Laub beiseite und glotzte verdutzt auf einen Farnwedel, einen perfekten, unterarmlangen Farnwedel. Er klemmte unter dem Scheibenwischer und wirkte irritierend saftig und frisch. Ich wusste, dass Farn – einmal gepflückt – rasch welkte. War er erst vor wenigen Minuten hier deponiert worden? Aber dann sah ich, dass er in einer dieser wassergefüllten Plastikphiolen steckte, in denen man Orchideenzweige kaufen konnte.

An den Wedel war mit rotem Geschenkband ein zusammengerolltes Stück Papier gebunden, auf dem eine Nachricht stand, wie ich rasch herausfand: Kennst Du die Blumensprache?

Was zum Henker …? Wie schräg war das denn? Nein, ich kannte die Blumensprache nicht. Natürlich wusste ich – wie vermutlich jeder Mensch auf der Welt –, dass rote Rosen »Ich liebe dich« sagen. Und ich wusste, dass es noch andere Blumen gab, die eine Botschaft transportieren, wenn man sie verschenkt. Aber damit hatte sich mein Wissen auch schon erschöpft.

Ich kam zu dem Schluss, dass es sich um einen Irrtum handeln musste, dass jemand mein Auto verwechselt hatte. Bestimmt war ich gar nicht gemeint. Aber was sollte ich mit dem Farnwedel anstellen?

Ich dachte kurz nach, dann wischte ich das Laub vom Autodach und legte den Farn darauf. Konnte ja sein, dass irgendwer in der Nachbarschaft einen floralen Gruß erwartete und schon vergeblich danach gesucht hatte. Jetzt reichte ein Blick aus dem Fenster, um ihn zu finden.

In dem wohltuenden Bewusstsein, den Tag mit einer guten Tat begonnen zu haben, eilte ich beschwingten Schrittes in den Park. Dank der Sonne am mittlerweile blauen Himmel leuchtete alles in herbstlichen Farben. Die knallgelben Blätter einer Gruppe von schlanken Ginkgobäumen strahlten so intensiv, als wäre jedes einzelne von innen beleuchtet – das sollte mein erstes Foto werden.

Ich stellte die Kameratasche auf eine Bank und holte die Kamera heraus. Nachdem ich den Objektivdeckel abgenommen hatte, blickte ich durch den Sucher. Das knallige Gelb der Blätter, durchzogen von schwarzen Ästen, die nur deshalb sichtbar waren, weil sich das Laub bereits gelichtet hatte … Im Hintergrund der blaue Himmel … Hätte ich diesen wunderbaren Anblick überhaupt wahrgenommen und zu schätzen gewusst, wenn ich nicht auf der Suche nach einem lohnenden Motiv gewesen wäre? Ich knipste aus verschiedenen Perspektiven, zoomte einzelne Blätter heran, stellte mich dann dicht an einen Stamm und fotografierte daran entlang nach oben in den Himmel.

Danach war mein Jagdinstinkt erwacht. Die Tasche umgehängt, die Kamera im Anschlag, pirschte ich weiter durch den Park. Wo immer ich einen farbenfrohen Strauch sah, stürzte ich mich mit Feuereifer darauf. Je näher ich heranging, desto mehr entdeckte ich: zarte Spinnennetze, winzige Insekten, vertrocknete Samenstände, einige letzte Blüten. An dichter bewachsenen Stellen des Parks zwängte sich die noch tiefstehende Sonne in dicken Streifen aus Licht schräg zwischen den Baumstämmen hindurch – ein Anblick, den ich buchstäblich mit angehaltenem Atem fotografierte. Schon jetzt ahnte ich: Das Foto würde wie ein Gemälde aussehen. Als Nächstes machte ich einen Abstecher zum Ententeich, dessen spiegelglatte Oberfläche die Bäume am Ufer eins zu eins reflektierte. Hoffnungsvoll kam eine kleine Gruppe Enten angepaddelt, drehte aber sofort wieder ab, als klar war, dass ich nicht mit Futter um mich warf. Sie brachten das Wasser in Bewegung, was interessante Muster und wellenförmige Strukturen hervorrief, die ich wie besessen knipste.

Irgendwann ließ ich die Kamera sinken – für den Moment hatte ich genug.

Kapitel 3

Loretta entdeckt die Welt durch den Sucher der Kamera ganz neu, und auch Frank entdeckt etwas: ungeahntes Potenzial in der Blumensprache nämlich

»Loretta! Dat is aber schön!« Frank lehnte lässig im Verkaufsfensterchen seines Kiosks und schenkte mir ein breites Begrüßungsgrinsen. »Warsse spaziern?«

»Fotospaziergang«, erwiderte ich und klopfte auf die Kameratasche.

Frank nickte. »Bärbel hat erzählt. Vonne Kamera, mein ich. Und? Hasse schöne Fottos gemacht? Zeich mal.«

»Ich komme rein. Machst du mir einen Kakao?«

Im Kiosk schwang ich mich auf einen der Barhocker am Stehtisch und holte die Kamera aus der Tasche.

»Sag mal, hast du noch Brötchen für mich? Ich war länger im Park unterwegs als geplant.«

»Zwei Körner und fünf normale. Welche wollze?«

»Die beiden Körner.«

»Sollze haben.«

Brötchentüten raschelten, die Heißgetränkemaschine fauchte, am Verkaufsfenster bedauerte ein Kunde lautstark, dass die Körnerbrötchen aus waren. Währenddessen klappte ich das Display der Kamera heraus und zappte durch die Fotos.

»He, ich will auch kucken.« Frank kam an den Tisch und stellte den dampfenden Kakao ab.

Ich gab ihm die Kamera und zeigte ihm, wie er sich durch die Bilder manövrieren konnte. Während er sich die Fotos ansah, fragte ich: »Sag mal, verstehst du zufällig was von Blumensprache?«

Frank hielt inne und sah mich erstaunt an. »Von wat für ’ne Sprache?«

»Blumensprache. Welche Bedeutung es hat, wenn ich bestimmte Blumen überreicht bekomme. Botschaften. So wie rote Rosen für Liebe.«

»Blumensprache … Wat is dat denn fürn Mumpitz?« Frank grinste. »Als würd ich wat von Blümskes verstehn, also echt. Ob die aufm Tisch stehn oder ’n Becher mit Buntstifte …« Er zuckte mit den Schultern.

»Hätte ja sein können.«

»Sach ma, seit wann kennze mich jetzt? Bin ich etwa einer, der mit Blümskes irgendwelche Botschaften erzählt?« Er gackerte und fuhr fort: »Sach ma – gibbet nur Blumen für schöne Botschaften? Oder auch welche für Beleidigungen? Wat is denn wohl die Blume für ›Du blöden Heiopei‹? Da könnte man sich viele Streitereien ersparn. Einfach ’n Gestrüpp vorn Latz knallen und gut is.«

Ich schlürfte meinen Kakao und schwieg, denn ich wusste, er war mit dem Thema noch lange nicht durch.

»Hömma, dann würd ich aber wacker auf Blumenhöker umsatteln«, fuhr er fort. »Und ich wette, Blümskes für Beleidigungen würden viel besser gehen als die andern. Dat wärn dann bestimmt Brennnesseln und Disteln und so. Und welche, die ganz übel stinken. Und wie Kriege dann wohl aussehn? Aussem Fluchzeuch schmeißen die dann keine Bomben mehr, sondern Kaktusse. Und die Soldaten hauen sich dann gegenseitich Brombeerranken umme Ohrn.«

»Wäre doch super. Keine Toten mehr, sondern nur noch ganz viele Leute mit ganz vielen Kratzern.«

»Hehehehe«, machte Frank, der mittlerweile hinter seinem Verkaufstisch herumkramte. Plötzlich sah er hoch. »Wieso frachse mich dat überhaupt? Du frachs sowat doch nich ohne Grund.«

Ich erzählte ihm von dem Farnwedel, den ich unter meinem Scheibenwischer gefunden hatte, und er hob die Brauen.

»Merkwürdich. Meinze, dat war für dich? Wer soll dir denn sowat ans Auto stecken?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Bei mir in der Straße parken noch mindestens vier andere silberne Kleinwagen, die leicht mit meinem zu verwechseln wären. Vor allem im Dunkeln.«

»Ich sach ma so«, sagte Frank, »wenn dat ’n heimlichen Galan wär, der würde doch nich so ’n Gestrüpp aussuchen, oder?«

»Ich weiß es wirklich nicht, aber du hast recht. Von einem Verehrer würde ich eine Rose erwarten. Mindestens. Nee, ich denke, da hat sich jemand im Auto geirrt.«

Damit schien ich recht zu haben, denn der Farnwedel war bei meiner Rückkehr nach Hause verschwunden. Dachte ich zumindest, denn er lag nicht mehr auf dem Dach meines Autos. Ein paar Schritte weiter fand ich ihn vor der Motorhaube auf der Erde, zerfetzt, die Plastikphiole zertreten. Ups. War wohl ein Passant dafür verantwortlich? Einfach mal zerstören, obwohl die angehängte Nachricht und der kleine Wasserbehälter doch deutlich signalisierten, dass es den Farnwedel nicht zufällig auf mein Auto verschlagen hatte? Oder hatte die Botschaft den Adressaten erreicht, war aber nicht willkommen gewesen? Ich fragte mich, welche Geschichte dahinterstecken mochte, denn irgendjemand hatte die Nachricht für eine bestimmte Person hinterlassen. Es musste eine Geschichte geben.

Weil ich neugierig auf die Fotos war, machte ich mir nur einen Espresso und verschob das Frühstück auf später. Als ich das Material auf meinen Laptop überspielte, stellte ich verdutzt fest, dass ich sage und schreibe hundertsiebenundneunzigmal auf den Auslöser gedrückt hatte; ich hätte auf allenfalls sechzig bis siebzig Bilder getippt.

Natürlich war eine Menge Schrott dabei, wie ich ziemlich schnell erkannte. Vieles entpuppte sich – jetzt da ich es größer als auf dem Display sah – als verwackelt, unscharf, schief abgelichtet oder entsprach meinen Vorstellungen aus anderen Gründen nicht. Manchmal stellte sich etwas, das ich für ein gutes Motiv gehalten hatte, dann doch als langweilig heraus. Nachdem ich alles gelöscht hatte, was mir nicht hundertprozentig gefiel, blieben knapp fünfzig Fotos übrig, mit denen ich überaus zufrieden war. Bunte Blätter vor blauem Himmel, Insekten, scharf bis ins Detail, zwei Aufnahmen vom Teich mit im Wasser gespiegelten Bäumen. Die Fotos, auf denen das Sonnenlicht zwischen Baumstämmen hindurchschien, fand ich fantastisch. Zufrieden lehnte ich mich zurück. Nach dem Frühstück wollte ich Isolde ein paar Bilder schicken, damit sie sah, dass ich die Kamera schon benutzt hatte. Das würde sie freuen, da war ich sicher.

Ich ließ mir die Körnerbrötchen schmecken und blätterte die Prospekte aus der Sonntagszeitung durch, als mir die Werbung einer Gärtnerei in die Hände fiel. Robuste Winter-Bepflanzung für Balkonkästen, Winterhartes für den Garten und dann die Überschrift: Lasst Blumen sprechen. Da war sie wieder, diese ominöse Blumensprache.

Ich schob den Teller weg, zog den Laptop heran und begab mich auf die Suche. Einen Suchbegriff später – ja genau: Blumensprache – überrollte mich eine Lawine von Informationen. Rote Rosen waren eine Liebeserklärung, das war klar, aber dann entdeckte ich endlose Listen, in denen die Bedeutungen von zig Blumen und Pflanzen aufgeführt waren.

Natürlich suchte ich sofort nach der Botschaft, die ein Farnwedel überbrachte, die sich dann aber als wenig spektakulär entpuppte: Ich mache nicht gern viele Worte. Aha. Und was, bitte, sollte das bedeuten? Dass der Überbringer des Farnwedels beabsichtigte, für jegliche weitere Kommunikation nur noch die Blumensprache zu benutzen? Obwohl … vielleicht war diese Botschaft ja gar nicht die erste gewesen, sondern nur die erste, die ich gesehen hatte. Könnte ja sein. Und der zerfetzte Wedel war schlicht ein Zeichen dafür, dass der Adressat – oder die Adressatin – das gesprochene Wort schätzte und vom stummen Versender floraler Grüße die Schnauze voll hatte? Man wusste es nicht.

Man wusste ja überhaupt so wenig.

Ohne es zu merken, hatte ich mich im Internet festgelesen. Es war ziemlich dämlich von mir gewesen, so früh aufzustehen, da meine Schicht im Callcenter um 22 Uhr begann. Allerdings traute ich mich nicht, mich jetzt, am frühen Nachmittag, noch mal für ein paar Stunden Schlaf ins Bett zu legen, denn das würde todsicher dazu führen, dass ich später völlig desorientiert und mit einem Mini-Jetlag im Callcenter saß.

Alles schon ausprobiert.

Es war besser, die erste Nacht durchzuhalten und dann ausgiebig auszuschlafen; so war jedenfalls meine Erfahrung. Um die Zeit totzuschlagen, beschäftigte ich mich wieder mit meinen Fotos. Besser gesagt: damit, mich ins Bildbearbeitungsprogramm einzuarbeiten. Ich experimentierte bei einigen mit gewagten Ausschnittsvergrößerungen, veränderte bei anderen den Kontrast oder die Farbintensität und wandelte ein paar in Schwarz-Weiß-Fotos um.

Besonders fasziniert war ich von den Aufnahmen einiger Insekten, deren bizarre Schönheit erst durch die starken Vergrößerungen sichtbar wurde: Beispielsweise sah ich zum ersten Mal, dass eine Fliege Haare am Hintern hatte. Jetzt begriff ich auch den Unterschied zwischen meiner kleinen Digitalkamera und dem Hochleistungsgerät, das Isolde und Maria mir anvertraut hatten, um mich auf andere Gedanken zu bringen.

Ich stellte eine kleine Auswahl zusammen und schickte sie per Mail an Isolde; natürlich mit einem enthusiastischen Dankeschön und der Bitte, sie an Maria weiterzuleiten. Auch Diana bedachte ich mit ein paar großformatigen Insekten, die sie ganz bestimmt zum Kreischen bringen würden.

Auch wenn mein Appetit sich in Grenzen hielt, kochte ich mir Nudeln, um meinen Energiespeicher aufzufüllen und mich für die lange Schicht zu stärken. Da ich wusste, dass nachts an der Hotline nur wenig los war, packte ich etwas zu lesen ein: ein dickes Buch mit den gesammelten Reportagen, Essays und Porträts von Truman Capote. So fühlte ich mich bestens gewappnet.

Tagsüber, wenn zwanzig und mehr Menschen gleichzeitig telefonierten, herrschte im Callcenter ein Riesenlärm. Da wir Kopfhörer trugen und in Kabinen saßen, die nur nach hinten hin offen waren, störten wir uns gegenseitig nicht bei der Arbeit.

Unsere blickdichte Eingangstür war gut gesichert, damit sich niemand aus Versehen in unsere Räumlichkeiten verlaufen konnte; immerhin waren in dem großen Gebäude noch weitere Firmen untergebracht, und es herrschte reger Publikumsverkehr. Man stelle sich vor, jemand irrte sich in der Etage und stünde plötzlich inmitten dieser schrägen Sinfonie aus vielstimmigem Stöhnen, geheuchelten Orgasmen, Liebesgeflüster und barschen Befehlen von der Domina-Fraktion.