image

LUTZ TAUFER

ÜBER
GRENZEN

VOM UNTERGRUND
IN DIE FAVELA

image

© Berlin, Hamburg 2017

Assoziation A, Gneisenaustraße 2a, 10961 Berlin

www.assoziation-a.de

hamburg@assoziation-a.de, berlin@assoziation-a.de

Gestaltung: Andreas Homann

Titelfoto: Barbara Eismann

eISBN 978-3-86241-623-3

INHALT

VORWORT

(1)DIE KINDHEIT FÄNGT FRÜHER AN, ALS MAN DENKT

(2)WENDEZEIT

(3)KURZE MÄRSCHE DURCH INSTITUTIONEN – PSYCHIATRIE & HEIMERZIEHUNG

(4)ZWISCHENSTADIEN

(5)STOCKHOLM

(6)KNAST I: WIE ICH LERNTE, MICH ZU BEHAUPTEN

(7)KNAST II: HOCHSICHERHEITSTRAKT CELLE

(8)DU BIST FREI!

(9)MEIN LIEBSTES WAHNSINNSLAND

(10)ZURÜCK

SCHLUSS

VORWORT

Meine Worte, meine Sätze kommen spät. Bin ich angekommen? Wenn ja, wo?

Die Jahre, die ich hatte, verliefen in ungewöhnlichen Etappen. Solchen, die sich beim Schreiben gerne und ohne Weiteres erschließen, und solchen, bei denen nach zahlreichen und tagelangen Gesprächen am Ende die Worte fehlen, weil Worte sich als unzureichend erweisen.

Ich habe Puzzlestücke ausgegraben, habe Gespräche, Diskussionen und Korrespondenzen geführt, mit Jüngeren und Älteren, mit Deutschen und Lateinamerikaner*innen, habe in längst vergessenen Briefen, Zeitungen, Flugblättern gestöbert, in Bücher, auf Bildschirme und Leinwände geschaut, habe mich um Nachvollziehbarkeit, Übersichtlichkeit und Lesbarkeit bemüht.

Immer wieder haben sich Räume aufgetan, Räume der Hoffnung und des Glücks, des Schmerzes und der Trauer, der Liebe und des Hasses, der Selbstaufgabe und der Selbstbehauptung. Aufgelassene Räume, leer stehende Räume, die darauf warten, wieder mit Leben, mit Kämpfen und Niederlagen gefüllt zu werden, mit solchen, die Mitteilungen über eine solidarische Gesellschaft jenseits des Warenverhältnisses, der Marktlogik, des Wachstumsfetischs transportieren. Nicht alles, wofür ich in meinem Leben verantwortlich bin, wird dieser Zielvorgabe gerecht.

Erinnerungen aufzuschreiben birgt immer die Versuchung des Opportunismus, der Stilisierung. Ich bin mir nicht sicher, dass ich solcher Anfechtung durchgängig widerstanden habe. Schließlich ist das Veröffentlichen von Erinnerungen auch Entblößung dessen, was unkenntlich, bisweilen selbst für den eigenen Blick, im Innern verstaut ist. Auf diesem Gelände geht es unübersichtlich, widersprüchlich zu. Denkwege, Umwege, Irrwege sind im Lauf der Jahre zu Gefühlsmustern geronnen. Gefühlsmuster, die Beglückendes überhöhen und Schmerzhaftes erträglicher machen. Es gilt sie zu entschlüsseln, mit Namen, Wörtern, Sätzen zu belegen und kommunizierbar zu machen, eine endlose Kette von Entscheidungen, die sich zu einer Festlegung, der Festschreibung eines Gesamtbildes fügen.

Eins zu eins ist die Vergangenheit nicht wiederauferstanden. Ich habe manches weggelassen, sensationelle Enthüllungen, etwa über Stockholm oder die RAF, finden sich in diesem Buch nicht. Ich habe mir Mühe gegeben, die Eiswüste der Abstraktion links liegen zu lassen. Mir ging es nicht darum, die Vergangenheit wiederaufleben zu lassen, ich wollte ihre Vergegenwärtigung, ihr Hereinholen in die so kompliziert gewordene Gegenwart.

Über einige Menschen habe ich nicht geschrieben, auch über solche nicht, die für mich wichtig waren, die ich geliebt habe. In Haft war ich 20 Jahre lang einer lückenlosen Kontrolle meiner Lebensäußerungen ausgesetzt, ich möchte das eine oder andere heute für mich behalten.

Jetzt, wo die Arbeit an meinen Erinnerungen sich einem Ende nähert, habe ich das Gefühl, noch einmal eine Grenze überschritten, etwas hinter mir gelassen zu haben. Aber die Fragen nach dem Wohin und Wie stehen nach wie vor im Raum, dringlicher denn je.

Ohne die Hilfe und Begleitung von Hauke Benner, Lisa Böttcher, Knut Folkerts, Denise Fraenkel, Heinz Herlitz, Beate Kirst, Ute und Ulrich Luig, Janete Nazareth Guilherme, Jochen Noth, Antje Schmierer, Jens Seute, Anke Spieß und Anselm Weidner wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Jedenfalls nicht in der vorliegenden Form. Bei ihnen möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Sie haben gegengelesen, was ich geschrieben habe, mich ermuntert und kritisiert, mich mit Vorschlägen überrascht und wertvolle Hinweise gegeben. Vor allem aber möchte ich Theo Bruns, der sich die Mühe gemacht hat, das Manuskript zu lektorieren, für die kritisch-solidarische Zusammenarbeit danken.

(1) DIE KINDHEIT FÄNGT FRÜHER AN, ALS MAN DENKT

WANDERN STATT MARSCHIEREN

Beim Umblättern der Seiten des Fotoalbums muss ich behutsam vorgehen. In Brasilien hatte ich es in einem Wandschrank verstaut. Jahre später holte ich es wieder hervor, es war arg ramponiert. Die extrem hohe Luftfeuchtigkeit der Stadt am Meer hatte ihm zugesetzt. Vieles lief damals überstürzt in meinem Leben, achtlos ging ich mit Dingen um, bisweilen auch mit Menschen. Jetzt, wo ich in der Dokumentation eines wie mir scheint oft glücklichen Lebens meiner Eltern blättere, die meine Mutter mit viel Liebe und Hingabe zusammengetragen hat, lösen sich Fotos, sind verblichen, bisweilen unkenntlich. Eine Briefmarke flattert auf den Boden, Hakenkreuz vor deutscher Burg und Sonnenemblem, Reichsparteitag 1943, Nürnberg.

Viel Schwarzwald ist zu sehen auf den Fotos mit den gezackten Rändern, die ich als Kind mit leisem Kitzel über die Fingerkuppe holpern ließ, Kaltenbronn, Teufelsmühle, Titisee, dazu Rheinauen, Bodenseepanoramen. Sommers werden Schwäne gefüttert, Nachen gerudert, im Winter geht’s per Ski durch tiefen Schnee. Unter einer mächtigen Buche, am Ufer eines Gewässers, lacht eine Gruppe junger Menschen in die Kamera. Ein lockeres Völkchen. Die Frauen in hochgeschlossenen Badeanzügen, die Männer in Shorts oder Badehosen. In der Mitte meine Mutter und mein Vater. Er ist der Einzige, der nicht zum Fotografen blickt, sondern in das lachende Gesicht meiner Mutter. Er hat sie immer wieder abgebildet, vor Wasserfällen, Burgruinen, Kirchen, alten Bauernhäusern, stillen Schwarzwaldlandschaften. Darunter auch Fotos, die von Liebe und Sex erzählen. Meine Mutter in Badeanzugposen, der Vater, grinsend, auf einem potent hervorschießenden Brunnenstrahl reitend. 8.4.34 Ebersteinburg, 27.5.34 Dom in Speyer, 10.6.34 Teufelsmühle. Mit weißem Stift und akkurater Sütterlinschrift hat die schöne junge Frau mit der modischen Bubikopf-Frisur alle Stationen einer erstaunlichen Wanderlust auf den mattschwarzen Albumblättern festgehalten. Die frühesten Bilder stammen aus dem Jahr 1933, die ältesten aus dem Jahr 1950, Faschismus und Nachkriegszeit. Unter den über 400 Aufnahmen sind nur zwei oder drei mit Hakenkreuzfahne im Hintergrund. Ein Leben abseits der damaligen Hitler-Hysterie, wie es scheint.

Neben dem Fotoalbum liegt ein Gedichtband. Eine Ausgabe, ganz im Jugendstil gehalten, türkisfarbener Einband, marmoriert, warmbrauner Lederrücken, eingraviert die Worte: Heine: Buch der Lieder. Vielleicht ein Geschenk der Mutter an den Vater? Ein Gedicht ist mit Bleistift angekreuzt: Dona Clara, Heines Spottgedicht auf den Antisemitismus.

Ob die alten Fotos von einer organisierten Gruppe zeugen, weiß ich nicht. Vermutlich handelte es sich um einen Freundeskreis. Meine Eltern haben nie darüber gesprochen. Was wir als Kinder nicht sahen, sehen oder gar verstehen konnten, war der monströse Hintergrund, vor dem sich diese Idylle abspielte: der Faschismus. Erst als – vor allem seit der Studentenrevolte 1968 – jüngst Vergangenes ausgegraben wurde, stieß ich auf Gruppen wie die Edelweißpiraten, die sich mit der Hitlerjugend prügelten, die Wandervogelbewegung und die bündische Jugend, die 1933 in die Hitlerjugend zwangseingegliedert worden waren. Später, in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, fand ich im Saal über Jugendwiderstand Fotos, die eine Botschaft transportierten, eine Atmosphäre zeigten, die mir vom elterlichen Album vertraut schien. Ich glaube nicht, dass jenes auf den Fotos abgebildete Leben meiner Eltern auf eine dezidiert politische Entscheidung, gar auf Widerstand gegen den Faschismus hinweist. Aber die Fotos erzählen vom Glück und der Courage zur Randständigkeit in einer Zeit hysterischer Volksgemeinschaft.

AUSSTEIGER

Als mein Vater 1944, meinem Geburtsjahr, er war damals schon über 40 Jahre alt, zusammen mit anderen seiner Altersklasse, mit Frauen und Kindern in den Volkssturm eingezogen werden sollte, kaufte er sich eine Fahrkarte und sprang aus dem Zug, um sich kriegsuntauglich zu verletzen. Er war nicht der Einzige, der sich im letzten Kriegsjahr der Einberufung zum Volkssturm entzog. Aber immer noch hätten sie ihn, wenn er bei seiner Selbstbeschädigung erwischt worden wäre, an die Wand gestellt. Darauf stand die Todesstrafe. Noch im März 1945, drei Wochen vor der Kapitulation, setzte der damalige Marinerichter Hans Filbinger – später dann, 1966 bis 1978, Ministerpräsident von Baden-Württemberg – alle Hebel in Bewegung, um den 22-jährigen Matrosen Walter Gröger wegen Entfernung von der Truppe vor Torschluss noch hingerichtet zu bekommen.

Der Sprung aus dem Zug passte nicht so richtig in das Bild des Vaters, den ich nicht unbedingt als Draufgänger kannte. Es hatte mehrfach Brüche in seinem Leben gegeben, die ihre Spuren hinterlassen hatten. Die für ihn wohl einschneidendste Zäsur kam mit der Weltwirtschaftskrise, die ehemals wohlhabende Familie eines Karlsruher Kupferschmieds verlor alles. Er musste das Gymnasium verlassen, auf dem er Latein und Griechisch gelernt hatte, und eine Druckerlehre beginnen. Auf die Bleidämpfe reagierte er allergisch, also wurde er Buchhalter. Diesen sozialen Abstieg hat er nie verwunden. Das hat ihm viel Lebensmut genommen.

Als die französischen Befreiungstruppen auf Karlsruhe vorrückten, flüchteten meine Eltern mit meinem zwei Jahre älteren Bruder Jan und mir vorübergehend nach Langensteinbach, einem Dorf im Nordschwarzwald, wo ein Onkel meiner Mutter den Hof übernommen hatte. Beim Verlassen der Wohnung hatte mein Vater auf Französisch mit Kreide an die Haustür geschrieben: »Bitte nicht plündern!« So etwas galt als Fraternisieren. Dies und die Tatsache, dass mein Vater nicht in den Krieg gezogen war, führten in unserer Karlsruher Nachbarschaft zu Feindseligkeiten und Mobbing bis zu unserem Umzug in ein Neubauviertel im Jahr 1958. Das war 13 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. So war die Atmosphäre in den 1950er und 1960er Jahren. Wer aus der faschistischen Volksgemeinschaft ausgeschert war oder gar Widerstand geleistet hatte, galt als Verräter.

Die Kinder der Widerstandskämpfer, die von Hitler hingerichtet worden waren, wurden als Verräterkinder gebrandmarkt. Während hochkarätige Kriegsverbrecher üppige Pensionen bezogen und wieder in höchste Ämter übernommen wurden, mussten die Familien der Widerstandskämpfer oft ums existentielle Überleben kämpfen. Die Todesurteile gegen die Hingerichteten der Widerstandsorganisation Rote Kapelle wurden erst 2009, nach 65 Jahren, vom Bundestag aufgehoben. Wie Hans Coppi, der Sohn eines hingerichteten Widerständlers berichtet, wollte Bundeskanzler Helmut Kohl die Fotos, Texte und Dokumente zur Roten Kapelle in der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand aus der Ausstellung entfernen lassen.

VORWÄRTS UND VERGESSEN – EINE AMBIVALENTE KINDHEIT

Mein Vater war indes alles andere als ein Widerstandskämpfer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er je entschieden Widerstand geleistet hätte. Er musste wohl hier und da irgendwelche Märkchen in der Nachbarschaft verkaufen, wie mir meine Schwester erzählte. Aber er und die Mutter hielten sich raus, so weit es irgendwie ging. Das reichte jedoch schon für die feindselige Haltung einiger Nachbarn. Ich würde nicht sagen, dass meine Kindheit von ihr geprägt war, aber zu übersehen war sie auch nicht. Das weckte zwiespältige Gefühle in mir. Gegen die kalte, bisweilen höhnische Ablehnung war ich als Kind wehrlos, da senkte sich in mich ein Gefühl, als seien ich und meine Eltern mit einem Makel behaftet, gegen den wir nichts machen konnten, das Gefühl, anders zu sein als die anderen. Andererseits stärkte es mein Selbstbewusstsein, meinen Stolz, in dieser Marginalität zu leben, zum kleinen Freundeskreis meiner Eltern dazuzugehören, wo man sich über die, unter denen ich bisweilen litt, schepp lachte.

Auf der anderen Straßenseite wohnte ein Ehepaar, der Mann war ein kleiner Nazi-Polizist gewesen. Sie riefen Schimpfworte über die Straße. Die Nachbarin, die mit uns auf derselben Etage wohnte, hatte im Krieg ihren Mann verloren, sie war verbittert und hasste meine Mutter, weil sich mein Vater vor der Verteidigung der deutschen Gaue gedrückt hatte. Zwei Häuser weiter wohnte eine andere Nazi-Familie, der streitsüchtige Junge wurde von seinem Vater »kernig« erzogen, was er meinem Vater auf der Straße auch lautstark für mich und meinen Bruder empfahl. Ich war ein eher stilles Kind, Rabaukentum war nicht mein Ding.

Immer wieder erzählten mir meine Eltern die folgende Episode: Dort, im Nordschwarzwald, wo die französische Armee schließlich auch hingekommen war, hatte ein Algerier, mit ziemlich dunkler Hautfarbe, wie sie betonten, mich, dieses Baby, ins Herz geschlossen. Vermutlich vermisste er die eigenen Kinder, die er in der französischen Kolonie Algerien zurückgelassen hatte. Mit Gewehr und Stahlhelm ausgerüstet, schob er mich im Kinderwagen durch das Dorf. Wie kam der Algerier in den Nordschwarzwald?

Wieder verdankte ich es der Horizonterweiterung, die mit 68 kam, dass ich diese im Grunde banale Episode später politisch und historisch einordnen konnte. Der afrikanische Soldat, der da für die französische Nation gegen die Deutschen kämpfte, war einer jener Kolonisierten aus den drei algerischen Départements, die der Aufforderung der Kolonialherren gefolgt waren, mit der französischen Armee für Demokratie und Menschenrechte und gegen den Faschismus zu kämpfen. Viele kamen, kämpften und starben als Kanonenfutter. Als in der Stunde der Siegesparaden in Europa die Algerier ebenfalls für Freiheit und Menschenrechte demonstrierten, massakrierten die Kolonialstreitkräfte in Sétif kurzerhand 40.000 Menschen. Es folgte, 1954, der algerische Befreiungskampf. Kurz zuvor hatten die Aufständischen in Vietnam mit der Eroberung der Dschungelfestung Dien Bien Phu den französischen Kolonialtruppen in Indochina die endgültige Niederlage beigebracht. Bei den Angriffen der algerischen FLN auf die Kolonialzonen war der Schlachtruf der Aufständischen: Dien Bien Phu.

Ein Rätsel wird für mich bleiben, weshalb die Eltern so gut wie nie mit uns Kindern über jenes Leben sprachen, dessen Geschichte aus dem oft durchblätterten Fotoalbum sprach, ein Leben, das man ja wirklich nicht zu verstecken brauchte. Oder doch? Der elterliche Freundes- und Bekanntenkreis war begrenzt. Warum? Lag es an der zurückhaltenden Art des Vaters? Waren es Erlebnisse, die die Eltern im Nazi-Umfeld gemacht hatten? Die Existenzgrundlage der Familie war prekär. Der Mittagstisch war oft »vegetarisch«, nicht aus Überzeugung, sondern aus Mangel. Die Lebensmittelzuteilung erreichte im Juli 1945 mit 775 Kalorien pro Tag einen Tiefststand. Das soziale Klima war auch in den 1950er Jahren noch so, dass es einem Vorankommen vermutlich nicht zuträglich gewesen wäre, mit jenen Vorbehalten, die meine Eltern gegenüber dem Faschismus gelebt hatten, offen umzugehen. Sie lebten noch immer in Randständigkeit. Akzeptanz und Unterstützung bekam mein Vater schließlich von anderer Seite. Aufgrund seiner Franzosenaffinität und seiner Sprachkenntnisse bekam er eine Stelle als Buchhalter im Hauptquartier der französischen Armee in Baden-Baden. Er pendelte jeden Tag mit dem Zug hin und zurück.

Der Vater, sozial abgestiegen, hatte eine junge Frau aus proletarischer Familie geheiratet. Als Zweitältester musste ihr Vater den bereits erwähnten Hof im Nordschwarzwald verlassen, lebenslang sollte er Singer-Nähmaschinen zusammenschrauben, am Ende ein von Magengeschwüren geplagter verbitterter Alter. Ganz anders Tante und Cousinen. Wie gerne war ich da zu Besuch. Es wurde viel gelacht, mir wurde Wärme zuteil, die ich zu Hause so nicht bekam. Als ich fünf Jahre alt war, durfte ich ein paar Tage in der Familie meiner Tante bleiben. Zwei oder drei Jahre zuvor war mein Bruder Jan an einer Blinddarmentzündung gestorben. Der Arzt hatte eine Fehldiagnose gestellt, Antibiotika gab es nach dem Krieg nicht. Jedenfalls nicht für meinen Bruder. Einige Erinnerungsbilder an ihn habe ich noch im Kopf. Wir vertrugen uns wohl ganz gut, gingen zusammen in unseren Lederhosen in den evangelischen Kindergarten. Als er tot war, hatte ich die Eltern für mich alleine. Das war auch nicht schlecht.

Jetzt stand die Geburt meiner Schwester Beate an. Ich wurde bei der Tante abgeliefert. Irgendwann nahm mich die Tante mit ins kleine Schlafzimmer, holte eine Stahlkassette aus dem Schrank, öffnete sie. Obenauf lag ein Foto von Hitler. Sie strahlte mich an.

Was machte damals ein Kind von fünf Jahren, das von Hitler nicht viel wusste, in einer solchen Situation? Ein Schock war es nicht, aber ein Erlebnis des Unbehagens und der Verunsicherung.

»SAG’ NIE WIEDER JAWOLL!!«

Auch wenn die Eltern nie über ihr »Damals« mit uns sprachen, Versuche, etwas von ihrer Überzeugung, ihrer Haltung an uns weiterzugeben, unternahmen sie durchaus. Eines Tages, 1955, ich war elf Jahre alt, nahm mich mein Vater mit ins Kino. Gezeigt wurde der Film Kinder, Mütter und ein General, das war einer der damals raren Filme über den Faschismus, und zwar über den Volkssturm. Therese Giehse, die famose Brecht-Schauspielerin, überzeugte in der Rolle einer couragierten Mutter, die ihrem zum Volkssturm eingezogenen Sohn an die Front nachreist, um ihn vor dem Heldentod zu bewahren. »Mama, ich bin Soldat, ich habe einen Russen erschossen.« Ein Jahr zuvor hatte der Produzent Erich Pommer Bedenken geäußert: »Die Zeit ist für einen solchen Film noch nicht reif.« Das war zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Zu diesem Zeitpunkt war in Italien die Etablierung einer populären antifaschistischen Kultur in Literatur und Film schon viele Jahre alt. Vieles von dem, was zuerst mit der Blechtrommel von Günter Grass, mit Rolf Hochhuths Stellvertreter, dann zehn Jahre später mit dem Frankfurter Auschwitzprozess und der 68er-Bewegung unabweisbar ins Bewusstsein der Nachkriegsgeneration rückte, durfte der damals noch ziemlich braunen Republik nicht zugemutet werden.

Man fand einen Kompromiss: Die ursprüngliche Fassung wurde im Ausland gezeigt und erhielt in Hollywood den Golden Globe Award als bester fremdsprachiger Film, für die deutschen Kinobesucher wurde eine Schon-Version produziert. Nach Verlassen des Kinos blieb mein Vater nach ein paar Schritten stehen, stellte mich vor sich hin und sagte: »Sag’ nie wieder jawoll!« Das war der Satz, den Therese Giehse ihrem Jungen immer wieder einzubläuen versucht hatte. Zehn Jahre nach dem formellen Ende des Faschismus entsprach dies nicht dem vorherrschenden Mainstream. Eigentlich war das, was der Vater sagte, anziehend. Nie mehr »jawoll« sagen, nie mehr den Kopf senken!? Ein Hauch einer anderen Art zu leben wurde spürbar. Aber irgendetwas stimmte daran nicht. Zu Hause galt diese antiautoritäre Parole ganz und gar nicht. Vom Vater bekamen wir Kinder schon mal Dresche. Und das nicht zu knapp. Ich sehe noch das Bild vor mir, wie er meine Schwester unter den Küchentisch prügelte, Blut lief ihr aus der Nase. »So lange du deine Füße unter meinen Tisch streckst, machst du, was ich sage!« Erziehungsmethoden, die in einem anderen deutschen Film, Das weiße Band (2009), ebenfalls Träger jenes Filmpreises, geschildert werden, wurden erst mit der 68er-Bewegung in Frage gestellt und nach und nach überwunden. Ulrike Meinhofs Film Bambule leistete hierzu einen Beitrag.

Wie bereits angedeutet, war der Freundes- und Bekanntenkreis meiner Eltern begrenzt. Es kam eigentlich nie vor, dass meine Mutter auf einen Kaffee zu einer Nachbarin ging oder eine zu uns einlud. Nur mit einer Nachbarin hatten wir ein herzliches, ja familiäres Verhältnis. Es handelte sich um eine alte Dame, eine Witwe, die eine altehrwürdige Konditorei geleitet hatte, wo zu Mokka »Mohrenköpfe« verzehrt wurden. In ihrer Küche stand noch immer ein Eisschrank, ein massives Monstrum, vorsintflutlich, aber für uns Kinder doch etwas Besonderes, denn zu Hause gab es weder Eis- noch Kühlschrank. Bisweilen kam ein Lastwagen, aus dem es überall heraustropfte. Er brachte große Eisbarren, die die Konditorswitwe dann in ihren Kühlschrank plotzen ließ. Weshalb ich gerne zu ihr ging, war indes nicht das Eis, sondern die Wärme und Aufmerksamkeit, die sie uns Kindern gab. Sie war alleine, hatte viel Zeit und einen großen Garten mit Quitten- und Pflaumenbäumen sowie einem großen Hühnergehege.

Gelegentlich kam ihr Bruder zu einem sonntäglichen Kaffee-und- Kuchen-Nachmittag aus Stuttgart angefahren, ein honoriger alter Herr im eleganten Sommeranzug. Dort gehörte er – ich erinnere mich nur dunkel – zu einem Kreis um die baden-württembergische FDP und die Stuttgarter Zeitung. Wenn das Gespräch auf Politisches kam, wurde ich zum Spielen in den Garten geschickt, wo die Hühner hinter einem Drahtgehege Körner pickten und Eier legten.

Es gab einen kleinen Bekanntenkreis von Gleichgesinnten, drei, vier befreundete Familien, bei denen wir ab und an mal eingeladen waren. Es ging immer sehr aufgekratzt zu. Hier und da wurde, meist in spöttischem Tonfall, über jene Leute gesprochen, die uns in der Nachbarschaft abweisend oder gar feindlich begegneten und die zu Hause vermutlich alle noch ihr Hitlerfoto und ihre Hitlerbriefmarken hatten. Ich war stolz darauf, zu einem Kreis von Menschen zu gehören, die sich offensichtlich über den dumpfen, kalten Zeitgeist stellten, den ich schon als Kind als trist und bedrückend empfand, ohne mir eine Alternative vorstellen zu können.

DER DUFT VON KERNSEIFE UND ENTSPANNUNG

Ich lebte also in einer ambivalenten Welt. Als Kind reflektierst du das nicht weiter. Es gibt angenehme und unangenehme Empfindungen, Impulse, Material für jene bisweilen verschlungenen Lernprozesse, über die sich dann Reaktionsmuster herausbilden. Die Lagergrenzen der Erwachsenen waren nicht immer meine. Kinder mögen keinen Streit unter den Erwachsenen in ihrer Umgebung. Das störte auch mein Verhältnis zu den Eltern; wenn mein Vater im Hausflur grußlos und mit stolz erhobenem Kopf an der Nachbarin vorbeischritt und sie sich ebenso seltsam verhielt, war das nicht angenehm. Da lag Spannung in der Luft und eine Unsicherheit, ob da nicht gleich was passieren würde. Ich musste und wollte ja mit meinen Mitschülern so gut wie möglich klarkommen, und zwar mit allen. Es gab aber das elterliche Verbot, mit den Kindern »von denen« zu spielen. Ob es dieses Verbot dort drüben auch gab, bei der Nachbarin, die bei Begegnungen im Hausflur nicht gegrüßt wurde, wusste ich nicht. Unter uns Kindern indes wurde Entspannungspolitik betrieben. Jedenfalls spielten wir zusammen, jedoch vermieden wir das Spielen im Hof, wo uns die Mütter vom Balkon aus hätten sehen können, und zogen uns in eine Waschküche zurück, die vom Hof aus zugänglich war. Noch heute erinnere ich mich an den anheimelnden Saubergeruch von Kernseife und Waschlauge, der stets in der Luft hing. Es herrschte beim grenzüberschreitenden Spiel der Kinder ein gewisser konspirativer Konsens. So verschaffte es mir ein Gefühl der Erleichterung, zu spüren, dass bei meiner Waschküchenfreundschaft, er war Sohn jener verbitterten Kriegerwitwe, ebenfalls der Wunsch nach gemeinsamem Spiel vorhanden war. Ich war nicht allein, da war ein Gleichgesinnter. Der innere Kompass von Kindern gehorcht Gefühlen und Phantasien – und nicht den Imperativen der Erwachsenenwelt. Vielleicht war es eine kindliche Trotzreaktion, sich über unsinnige Erwachsenengräben hinwegzusetzen, aber der Annäherungsprozess war dann doch begrenzt. Bei mir lag das am Empfinden einer gewissen Fremdheit einigen Kindern gegenüber, sie waren irgendwie anders. Sie waren noch ganz im alten Nazigeist erzogen. Da wurden nicht nur Hitlerbriefmarken im Schrank aufbewahrt, auch die Erziehung der Kinder im Geist nazistischer Sekundärtugenden lebte ungebrochen fort. Und das war im Verhalten solcher Jungen zu spüren. Sie lebten im Spiel oder bei Streitereien sehr viel unbefangener sadistische und aggressive Züge aus, wie sie in gewissem Grad Kindern oft eigen sind. Richtige Freundschaft konnte da nicht wachsen.

Dieser Prozess der Annäherung nahm ein abruptes Ende, als meine Mutter im Hausflur von der benachbarten Kriegerwitwe geschlagen wurde. Das Einkaufsnetz mit den zerbrechenden Milchflaschen schepperte auf den Treppenabsatz, mit blutender Nase war die Mutter in unsere Wohnung geflüchtet, so etwas war ihr im Erwachsenenleben vermutlich noch nie passiert. Dass wir Kinder uns kloppten, war normal. Aber unter Erwachsenen? Ich war fest entschlossen, im Falle einer Attacke nicht einen Millimeter zurückzuweichen, sondern zurückzuhauen. Kam es zu Begegnungen im Treppenhaus, gab ich mich breitbeinig oder das, was ich dafür hielt. Von Stund an kannte ich den Nachbarsjungen nicht mehr. Weiterhin mit ihm zu spielen hätte ich als Verrat an meiner Mutter empfunden. Man sprang im Treppenhaus aneinander vorbei und tat so, als kenne man sich nicht.

CHRISTBÄUME IM HERBST

Ich erinnere mich an das Gefühl des Aufatmens, als ein paar Häuser weiter eine französische Familie mit einem Jungen meines Alters, Jacques, zu dessen Großeltern einzog. Meine Eltern berieten sich und gaben grünes Licht. Die Großeltern von Jacques hatten ein Sägewerk, an das sich zur Straße hin ein riesiges, mit hohem Ginster bewachsenes Gelände anschloss, in dem wir wie in einem Wald umherstreiften. Ein Paradies für eine Kinderbande. Von Ginster überwuchert rosteten alte Maschinenungetüme vor sich hin, auf denen wir herumkletterten. Wir fanden Munition und sogar eine verrostete Pistole. Vor dem Lattenzaun betrieb ein beinamputierter Kriegsheimkehrer einen Wellblechkiosk. Wir ärgerten ihn, indem wir aus sicherer Ginsterdeckung Steine auf sein Blechdach warfen. Seine aufgeregte Reaktion auf das hart scheppernde Geräusch reizte uns zu immer neuen Attacken. Er verkaufte Sechser-Packungen mit Zuban-Zigaretten, von denen wir auch schon mal welche probierten, Limonade, »Negerküsse« und »Judenfürze«, wie das damals im ungebrochenen Nazi-Jargon hieß, kleine Feuerwerkskörper, mit denen wir die Erwachsenenwelt erschreckten.

Vor allem die Mütter reagierten nervös-aggressiv auf unser Herumknallen. Einmal, früh war das Herbstdunkel hereingebrochen, hörten wir ein Zischen und Bersten am Himmel. Alle stürzten auf die rückwärtigen Balkone und starrten in den Himmel, wo wunderschöne Leuchtspurgebilde in der Luft standen. Nun geschah etwas Ungewöhnliches. Meine Mutter schrie angsterfüllt zum benachbarten Balkon hinüber: »Christbäume, Christbäume!!« Ich wunderte mich, es war doch keine Weihnachtszeit! Die feindliche Nachbarin schrie irgendetwas zurück. Meine Verwunderung wurde noch größer, noch nie hatte ich die beiden Frauen miteinander reden gehört. Beide Mütter waren in Panik, obschon der Krieg seit ein paar Jahren zu Ende war. Vor alliierten Bombardements waren die Abwurfstellen mit solchen »Christbäumen« markiert worden.

AM RAND

Die Erfahrung, nicht immer in kindlicher Unbefangenheit umhergehen und mich in meinem eigentlich angenehmen Jungenleben dahintreiben lassen zu können, stattdessen immer wieder Menschen, Orte, Nachbarn passieren zu müssen, bei denen ich auf Zumachen oder Aufpassen umschaltete, trug wohl dazu bei, dass ich auch Freunde hatte, die ebenfalls nicht so richtig zum Mainstream gehörten. Wo welche am Rand der Gesellschaft standen, mit Makel behaftet oder ausgegrenzt waren, fühlte ich mich zugehörig und zuständig. Da konnte ich mich wiedererkennen, das hatte etwas mit mir zu tun.

Ich hatte eine kleine Freundin. Sie war Kind einer Flüchtlingsfamilie, die im Nachbarhaus unterm Dach wohnte und zu mir in die Klasse ging. »Polacken«, wie das damals hieß, vermutlich Polen. Sie verließen kaum ihre Mansardenwohnung. Der Vater, in altväterlichem Anzug und Schiffermütze, saß meist zu Hause unter der Dachschräge und wenn ich kam, spielte er auf einem großen Akkordeon. Das war ein angenehmes und freundliches Kennenlernen von Unbekanntem und Neuem. Bis heute habe ich ein Sympathieverhältnis zu diesem Musikinstrument, im brasilianischen Nordosten ist es unverzichtbarer Bestandteil jeder Forró-Gruppe, einem Tanz, der auch bei dn Jugendlichen, vor allem im Nordosten, in den letzten Jahren ein Revival erlebt hat. Die Freundschaft mit dem Flüchtlingsmädchen erlitt allerdings eine Zäsur. Meine Mutter erwischte uns im Gebüsch beim Doktorspielen. Natürlich lag das am »Polackentum«. Es gab ein riesiges Geschrei. Das Entsetzen, mit dem meine Mutter auf die beginnende sexuelle Neugier der beiden Kinder reagierte, war ein typisches Merkmal der Adenauerzeit.

Mein bester Kumpel in der Volksschule kam aus der Barackensiedlung. Dort wohnten unter miserablen Bedingungen Familien, die lange Jahre die Folgen von Krieg und Faschismus zu tragen hatten. Vielleicht waren sie ausgebombt worden, vielleicht waren sie Flüchtlinge. Ich weiß es nicht mehr, habe es ebenso vergessen wie seinen Namen. Alle Kinder damals, Anfang der 1950er Jahre, kamen mit zusammengeschneiderten, kratzigen Klamotten daher, oft in den Sachen, aus denen ältere Geschwister »herausgewachsen« waren. Aber der Kumpel sah besonders abgerissen aus. Ihn umgab die Aura des Unberührbaren, auf seinen Gesichtszügen stand etwas von schwieriger Lebenssituation geschrieben, das zog mich an. Seine schulische Performance war nicht die beste, während ich von der Lehrerin den Spitznamen »Dr. Rechtschreibung« verpasst bekam. Zu Zahlen hatte ich immer ein distanziertes Verhältnis, ganz anders zu Wörtern, Sätzen und Schmökern. Mehrfach holte ich mir Stromschläge an den gefährlichen Nachkriegslampensteckern, wenn mich meine Mutter nächtens bei verbotenem Lesen oder später bei verbotener Casanova-Lektüre erwischte. Der Schuko-Sicherheitsstecker war noch nicht erfunden.

Der cultural gap zwischen meinem Kumpel und mir störte uns nicht. Wir verkehrten trotzdem, wie man das heute so sagt, auf Augenhöhe. In der Pause schlürften wir gemeinsam den etwas bitter schmeckenden Kakao der amerikanischen Quäker-Hilfe. Der war nicht besser als die Ziegenmilch, die ich noch Ende der 1940er Jahre mit einem Emailbecher bei der Nachbarin holen musste. Ich besuchte den Jungen mit einem Gefühl der Beklommenheit in seinem Eisenbahnwaggon, wo er mit zwei jüngeren Geschwistern und seiner Mutter lebte. Die im Kreis der Gleichaltrigen doch etwas randständige Freundschaft musste ich immer wieder mit Hänseleien und Streichen büßen. Flüchtlinge waren Menschen zweiter Klasse. Überall wurden sie diskriminiert, ausgegrenzt und benachteiligt.

LANG LEBE DER KOMMUNISMUS!

Unserem gemeinsamen Stromern durch die nähere und weitere Umgebung sollte das indes keinen Abbruch tun. Im Rahmen der im Eiltempo von den USA durchgeführten Umpolung der Deutschen von begeisterten Nazis zu begeisterten Antikommunisten hatten die Amis einen vom britischen Regisseur Alfred Hitchcock gedrehten Auschwitz-Film unterdrückt und stattdessen ein beträchtliches Arsenal an antikommunistischen Propagandafilmen produziert. Sie erreichten auch Karlsruhe. Auf dem staubigen und öden Festplatz im Stadtzentrum, wo heute das Stadttheater steht, wurde ein großes Armeezelt aufgeschlagen, um der Karlsruher Bevölkerung diese Propagandafilme zu zeigen. Es war Sommer, heiß, mit unseren bloßen Füßen hinterließen mein Kumpel und ich Abdrücke im weich gewordenen Asphalt. Noch heute habe ich den angenehm-herben Teergeruch in Erinnerung. Das Kinozelt war natürlich eine Attraktion. Wir schlüpften durch den Eingang, anders als die im Amerikahaus gezeigten Dick&Doof-Filme war dieser hier jedoch stinklangweilig. Es wurde erklärt, woran man bei einer Zugfahrt einen im Abteil sitzenden kommunistischen Spion erkennen könne und welche Vorsichtsmaßnahmen man bei Gesprächen mit Fremden zu ergreifen habe. Überall drohte dieser Kommunismus. Das Radio sprach ständig davon. Wahlplakate zeigten die beängstigende Bedrohung durch den »Iwan«, wie er über eine Mauer zu uns herüberlugte. Das war die klare Ansage: Wir müssen uns mit einer Mauer schützen und Garant dieser Mauer sind Adenauer und die CDU. »Auf der Mauer, auf der Lauer, liegt der Konrad Adenauer« – bei uns Kindern ein beliebter Reim, den wir auf der Straße und aus unseren Verstecken brüllten, um die Erwachsenen zu ärgern.

Die Plakate hatten für mich etwas Beunruhigendes und Düsteres. Weniger die mongolische Figur, die gierig mit knochigen Fingern über die Mauer grapschte, es war die Budjonny-Mütze, die wohl auf die Furcht vor andersartiger, fremder Kultur spekulierte. Irgendwann, an einem schönen Morgen, stach mich der Hafer. Ich lehnte mich aus dem Wohnzimmerfenster und schrie mit meiner Kinderstimme »Lang lebe der Kommunismus!« auf die Straße. Erschrocken riss mich meine Mutter vom Fenster weg. Natürlich hatte ich keine Ahnung, was es mit diesem Kommunismus auf sich hatte. Aber irgendwie hatten die vorherrschende Paranoia und Dauerhetze wohl die Kinderseele tangiert und zu einer schelmischen Abwehr des unangenehm Düsteren geführt. Auch wenn Amerika lange Zeit unser Sehnsuchtsland sein sollte, hier hatte das Umerziehungsprogramm zumindest bei einem Deutschen kontraproduktive Wirkung entfaltet.

GUT UND BÖSE

Identifizierte sich mein Vater mit Frankreich und seiner Kolonialkriegführung? Gegen die Nazis zu sein war eine Sache, sich auf die Seite der antikolonialen Befreiungskämpfe zu stellen, die meist von »Partisanen« geführt wurden, eine andere. Freiheit, Demokratie und Menschenrechte – die waren für die Weißen da, aber nicht für die Kolonisierten. Nicht wenige französische Résistance-Kämpfer gingen in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre nach Algerien, um an der Niederschlagung der dortigen Befreiungsbewegung teilzunehmen. Auch 60 Jahre später erinnere ich mich an die Szene bei uns zu Hause, als wir beim Abendessen saßen und im Radio der Fall von Dien Bien Phu gemeldet wurde. Das war 1954, ich war gerade mal zehn Jahre alt, verschlang die Romane von Karl May und hatte schon eine ziemlich klare Vorstellung von den Guten und den Bösen. Meine Eltern verstummten. Sie wussten nicht, was sie sagen sollten. Was hatte das zu bedeuten? Die kritische Lage in Indochina war sicher ein zentrales Gesprächsthema auf der Arbeitsstelle im französischen Hauptquartier. Mit der Dschungelfestung im Norden Vietnams hatte die französische Kolonialarmee den Versuch unternommen, der vietnamesischen Befreiungsarmee eine endgültige Niederlage beizufügen. Es geschah das Gegenteil, die katastrophale Niederlage der Franzosen beendete ihre Kolonialherrschaft in Indochina. In der französischen Fremdenlegion kämpften in Vietnam 70.000 Deutsche, darunter Tausende Angehörige der ehemaligen Waffen-SS. Mit der Vokabel Fremdenlegion verknüpften wir Kinder in jener Zeit exotische Vorstellungen, unscharfe Bilder von Abhauen, Abenteuer und weiter Welt.

BEI DEN FREIEN PFADFINDERN

Zum Bekanntenkreis meiner Eltern gehörte auch ein Kinderarzt, der nicht nur Löw hieß, sondern auch so war. Ein großer, dicker, jovialer und hilfsbereiter Mann in mittlerem Alter, der sich in seiner Freizeit um eine Gruppe von Pfadfindern kümmerte. Ob ich nicht auch mitmachen wolle? Natürlich waren es freie Pfadfinder, die weder einem Bund noch einer Kirche angehörten. Da wehte ein gewisses anarchisches Lüftchen, die Liebe zu Unabhängigkeit und Freiheit. Für meine Eltern war das wohl der ausschlaggebende Punkt. Mit allem, was organisiert auftrat, hatten sie ihre Probleme. Nach dem Nazi-Debakel war der Rückzug ins Private angesagt. Ich war stolz darauf, zu den Freien und Unabhängigen zu gehören. Hier erlebte ich zum ersten Mal eine Gruppenzugehörigkeit, die anders als die Schulklasse frei gewählt war. Von diesen freien Pfadfindern in Karlsruhe-Durlach sollte viele Jahre später eine Spur zur 68er-Bewegung führen. Sie hatten einen alten Turm besetzt, den sie zu ihrem Treff machten und der später von der Polizei gewaltsam geräumt wurde. Auf den alten Fotos sieht man halbwüchsige Jungs mit trotzig-entschlossenem Gesichtsausdruck.

Um mich fahrtentauglich für die Pfadfinder auszurüsten, bekam ich zu Weihnachten ein Fahrrad. Ein Mädchenfahrrad! Mit einem Mädchenfahrrad zur Schule und dann auch noch zu den Pfadfindern? Das gefiel mir überhaupt nicht. Ich klingelte unterm Weihnachtsbaum mit der Fahrradglocke Protest, bis mein Vater mir eine knallte. Warum ein Mädchenfahrrad? Von einem Mädchenrad herabzuspringen schien ihnen wohl sicherer zu sein. Der Tod ihres geliebten Sohnes Jan hatte meine Eltern überängstlich gemacht.

FREUND LOTHAR FÄLLT AUS DER WELT

Lothar, ein anderer Junge, zwei Jahre älter als ich, stand mir bei. Eine lebenslange Freundschaft sollte entstehen, trotz der spärlichen Kontakte, wie sie durch die Umstände bedingt waren. In der gemeinsamen Schul- und Pfadfinderzeit traf sich die Gruppe in einem Schuppen im Garten seiner Eltern. Später hat er sich als Buchautor und Essayist einen Namen gemacht: Lothar Baier. Er hat mich zwei-, dreimal im Knast besucht, auch sah ich ihn gelegentlich unter den Zuschauern im Prozess.

Nach meiner Entlassung 1995 besuchte ich ihn in seiner kleinen Frankfurter Wohnung. Er hielt fest an einer Kompromisslosigkeit, wie sie 68 in die Welt gesetzt hatte, wehrte sich aber vehement gegen das Etikett »68er«. »Ich war nie organisiert.« Auf diese Feststellung legte er großen Wert. In einem Nachwort zu Jean-Paul Sartres Brüderlichkeit und Gewalt sollte er 1973 schreiben:

»Sartre lässt sich ebenso wenig dazu bewegen, sich von seinem meistkritisierten Text, dem Vorwort zu Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde, zu distanzieren; sein Verhältnis zu der revolutionären Gewalt, die darin emphatisch als Geburtshelferin des befreiten Menschen beschworen wird, hat sich nach den Erfahrungen der siebziger Jahre zwar bedeutend verändert, aber als Antwort auf die während des Algerienkriegs erlebte Situation hält der alte Sartre die Heftigkeit der Parteinahme für die sich befreienden Kolonisierten von 1961 immer noch für gerechtfertigt: ein lebendiger Denker, der sich belehren lässt, die Mängel und Irrtümer eingesteht, der aber nicht bereit ist, rückblickend sein Werk und damit sein Leben zu verleugnen; ein selten gewordenes Beispiel.«

Später dann, als er es in Deutschland nicht mehr aushielt, zog er um nach Montreal. Er hatte mich, der ich schon einige Zeit in Brasilien lebte und arbeitete, noch gefragt, ob ich ihm Mut zum Wechsel machen würde, was ich tat.

Eines Tages schrieb mir Lothar von folgender Entdeckung: In den NS-Konzentrationslagern gab es eine Abteilung VI der KZ-Wachmannschaften, die für Truppenbetreuung und weltanschauliche Schulung zuständig war. Leiter dieser Abteilung in Auschwitz war mehrere Jahre lang Kurt Knittel gewesen. Nach dem Krieg setzte er seine Karriere im Schuldienst fort. Als Lothar und ich aufs Gymnasium gingen, war derselbe Knittel im Karlsruher Oberschulamt tätig und wurde 1959 zum Regierungsschulrat befördert.

Lothar setzte im Juli 2004 in Montreal seinem Leben ein Ende. Er sei »aus der Welt gefallen«, schrieb Jürgen Busche in einem Nachruf in der taz.

EIN GANZ GEWÖHNLICHER SCHÜLER

1954 ging ich aufs Gymnasium. Auf ein Spitzenresultat bei der Aufnahmeprüfung sollten zehn Jahre meist mäßiger schulischer Leistungen folgen. Ich musste eine Klasse wiederholen. Ich unterbrach die Schule, um ein Magengeschwür mit einer Rollkur zu kurieren. Das war wieder etwas, was nach außen kaschiert werden musste. Was hätten die Leute gedacht? Die Eltern dachten sich für die Nachbarn irgendetwas aus. Was war aber die Ursache für die psychosomatische Krankheit? Die Schule, in der die »schwarze« Pädagogik noch längst nicht auf dem absteigenden Ast war? Der Lehrer, auch noch einer von den Progressiven, der den Schüler wegen irgendeiner Banalität zwang, die Unterrichtsstunde zusammengekauert in einem Wandschrank zu verbringen? Die ständigen Streitereien meiner Eltern? Die Schlaftabletten, die meine Mutter mehr als einmal schluckte? Ich schlängelte mich in der Schule durch. Ich gehörte zu den Aufmüpfigen, die für jeden Blödsinn zu haben waren. Was ich in meinem Leben für mich entdeckte habe, das Interesse an Literatur und Geschichte, an Musik und Malerei, an der deutschen und an fremden Sprachen und anderes mehr – das sollte ich erst nach der Schule finden. Das Wertvollste, was mir von meiner Schulzeit geblieben ist, ist das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Klasse, das bis heute nicht völlig erloschen ist.

Zuerst fand der Unterricht behelfsmäßig in einem alten Schlösschen statt, dem man von früheren Glanzzeiten nichts mehr ansah. Im überfüllten Klassenzimmer bullerte im Winter ein Kanonenofen, bisweilen kam der Hausmeister in seinem grauen Kittel mit zwei Kohleeimern in den Unterricht, um Briketts nachzuschütten. Es war nicht besonders gemütlich. Der Bau der Höheren Schule, die in den südlichen Randbezirken von Karlsruhe fehlte, hatte bereits begonnen. Mitte der 1950er Jahre befand man sich schon im wirtschaftlichen Aufschwung, der durch Schuldenerlass, Marshall-Plan und vom Korea-Krieg forcierte Nachfrage auf den Weg gebracht worden war. Die neue Schule lag am Rande eines Neubauviertels, in dem die neuen Millionäre des Wirtschaftswunders, Neureiche genannt, ihre Villen bauten. Kinder aus diesen Familien gingen in meine Klasse, aber auch einige wenige wie ich, die aus eher armen, proletarischen oder kleinbürgerlichen Familien stammten. Das war Mitte der 1950er Jahre alles andere als selbstverständlich. Fürs einfache Volk war das Gymnasium nicht da. Es war den höheren Ständen vorbehalten. Bisweilen glaubte ich bei dem einen oder anderen Lehrer eine gewisse Herablassung mir gegenüber zu spüren, was ich als Urteil über meine schulischen Leistungen empfand. So einem wie mir trauten sie wohl nichts zu. Noch ein Jahrzehnt später beteiligte ich mich als Freiburger Student an der Aktion »Student aufs Land«. In den Kaiserstühler Dorfgasthäusern klärten wir die Eltern darüber auf, dass auch ihre Kinder das Recht hatten, in der Stadt aufs Gymnasium zu gehen. Damals verteidigte Bundespräsident Heinrich Lübke noch die »Zwergschule«, die Dorfschule, in der mehrere Altersstufen in ein und demselben Klassenzimmer unterrichtet wurden.

Uns Schülern schadete diese Klassenmischung nicht. Klassendünkel zeigte sich bisweilen, wenn etwa Schulleiter Fröhlich die renitente und lernunwillige Klasse aufgebracht fragte, ob wir denn so enden wollten wie »die da«? Er zeigte durch die schönen großen Fenster des modernen Schulneubaus auf die Baustelle vis-à-vis. Hinter seiner Goldrandbrille schossen zornige Blicke auf uns herab, er stemmte sich, mit den Fäusten in den Hosentaschen, in seine erzieherische Pflicht, wobei seine Hosenträger unter dem schwarzen Jackett zum Vorschein kamen. Der Verweis auf ein drohendes Bauarbeiterleben beeindruckte uns indes nicht. Sein finsterer Habitus passte auch gut zu der antikommunistischen Indoktrinationsrede, die er jeweils am 17. Juni, dem Tag der deutschen Einheit, auf die versammelte Schule losließ. Wir Schüler wurden hier im wahrsten Sinne des Wortes bebrütet.

Beklemmend war ein erstes Erlebnis von Klassenunterschied. Ich war eingeladen zum Geburtstag eines Mitschülers aus einer Parallelklasse, dessen Vater Oberbürgermeister in Freiburg gewesen war. Kurz zuvor hatte ich als Austräger für ein Blumengeschäft ein großes Bukett in der Villa abliefern müssen, am Hintereingang. Ich hatte schnell begriffen, dass ich das bei einfacheren Kunden übliche Trinkgeld bei solchen Adressen nicht bekommen würde. Und jetzt kam ich durch die Vordertür mit einem teuren Geschenk für den Mitschüler, mit dem ich gar keine so enge Freundschaft pflegte. Offenbar witterten meine Eltern in einer solchen Einladung irgendeine Chance. Lustlos klopfte ich beim Topfschlagen auf meinen Pott.

ZWEIERLEI LEHRER

Neben diesen sozialen Unterschieden in der Schule gab es noch eine weitere Diskrepanz. Wir hatten zwei Arten von Lehrern. Von den Jüngeren lebten und zeigten einige einen kritischen Nonkonformismus, auch im Unterricht, obwohl die antiautoritäre Revolte noch weit entfernt war, zumal in der badischen Provinz. In der stinkreaktionären Beamtenstadt Karlsruhe war von »Kampf dem Atomtod« oder von den literarischen Experimenten der Gruppe 47 kaum etwas zu spüren. Uns Halbwüchsige hätte das wahrscheinlich auch nicht weiter interessiert. Vor Kurzem ging mir der Erinnerungstext eines dieser jüngeren von uns verehrten Lehrer zu. Er schrieb, wie er sich gegen die Wiederbewaffnung engagiert hatte. Zum 50-jährigen Abitursjubiläum sollte ich ihn wiedersehen, fast blind, mit Rollator. Damals hatte er mich in Erstaunen versetzt. Bei einem Konzert unseres ersten Rock-’n’-Roll-Idols Bill Haley sah ich einen Mann in der ersten Reihe, der auf seinem Stuhl stand und wild seine Jacke über dem Kopf wirbelte. Zu meiner Verblüffung stellte ich fest, dass es unser Lehrer war.

Auch der Kunstlehrer Franz war von diesem Schlag. Mit seinem etwas längeren Haar und seinem verwilderten Hausgarten zählte man ihn schon zur Kategorie des Enfant terrible. Er verstieß gegen die festgefügte Ordnung überkommener Sekundärtugenden und war einer der Ersten, die uns offenbarten, was ein kritischer Blick auf die scheinbare Naturgegebenheit der Warengesellschaft freilegen konnte. Kritisch analysierte er anhand von mitgebrachten Zeitschriften, was wir heute als Sexismus bezeichnen. In der Epoche von Atombombe und Atombusen machte er sich über die steril gestylte Sexsymbolik lustig, die uns von Plakatwänden und aus Illustriertenseiten entgegenquoll und die wir pubertierende Jungs eigentlich gar nicht so abstoßend fanden. Es gelang ihm, uns zum Lachen zu bringen, verblüfft schauten wir uns plötzlich anders an, die wir bis dahin über Sex und das Verhältnis zum anderen Geschlecht nur verklemmt gewitzelt und Mitschülerinnen, die nicht dem herrschenden Schönheitsideal entsprachen, mit pubertärem Sadismus zugesetzt hatten. Nun tauschten wir uns in der ganzen Klasse untereinander aus, sprachen über Sex und Liebe und deren Missbrauch durch Reklame und Illustrierten. Wir begingen damit einen Tabubruch, denn über Sex redete man nicht offen. Als ich im Unterricht bei einem unserer Nazi-Lehrer mal laut und ungeniert das Wort »Pariser« benutzte, damals ein Wort für Kondome, musste ich nachsitzen. An diesem starren Gerüst hatten wir schon gerüttelt. Aber kritisches Denken, gar das unverblümte Infragestellen eines der identitätsstiftenden Daseinszwecke des Wirtschaftswunderdeutschen, nämlich Erwerb und Verbrauch von Waren und der dazu gehörigen Werbung – das war terra incognita. Da mussten wir erst mit der Nase draufgestoßen werden.

Offener Widerspruch zu den vorherrschenden Ansichten war ganz und gar unüblich und vor allem bei Jugendlichen inakzeptabel. Nachdenken bewegte sich allenfalls in den geordneten Bahnen des Besinnungsaufsatzes. Der Nonkonformismus dieser Lehrer bescherte uns ein erstes Aha-Erlebnis der abweichenden, der eigenen Meinung.

WIE GEHT VÖGELN?

Sexualaufklärung gab es auch. Schließlich wollte man eine moderne Schule sein. Allerdings fand sie nicht im regulären Unterricht statt, auch nicht aufbauend, wie das heute üblich ist. Die Schule lud ein zu einem in jeder Hinsicht einmaligen Event. Es fand abends statt und zwar im Physiksaal. Das war der geeignete Ort für das, was kommen sollte. Eltern und Mitschüler*innen erschienen im feierlichen Sonntagsstaat. Sie sprachen schmunzelnd miteinander über das Kommende. Wir grinsten auch, aber nur innerlich, wir wussten ja längst, was Sache war. Der Referent war schon etwas in die Jahre gekommen und trug einen schwarzen Anzug, als sei er gerade von einer Beerdigung gekommen. Er hatte etwas Beamtenhaftes. Mit viel Schwung fuhr er mit seiner Kreide über die Tafel und malte eine Riesenvagina und einen Riesenschwanz. Dann gab er der Tafel einen Schubs und sie flog nach oben. Solch direkte Aktion waren wir bei diesem Thema in der Schule nicht gewohnt. Wir waren verblüfft. Der Rest dieser Physikstunde hat sich nicht in mein Gedächtnis eingebrannt.

Ansonsten war für ethisch-moralische Fragen der Religionsunterricht zuständig. Immer wieder wurde über Albert Schweitzer gesprochen, ein großes Vorbild an Menschlichkeit. Schweitzer, ein deutsch-französischer Arzt, evangelischer Theologe und Pazifist, hatte in Gabun ein Urwaldkrankenhaus gegründet, war allerdings nicht frei von paternalistischen, rassistischen und prokolonialistischen Einstellungen. Aber davon wussten wir nichts. Für uns war er »der gute Mensch von Lambaréné«, der dort, in den afrikanischen Kolonien, den armen »Negern«, wie das damals noch hieß, gute Werke verpasste. Als auf die Pariser Wohnung seines Großcousins Jean-Paul Sartre, der gegen die französische Kolonialpolitik in Algerien protestierte, ein Attentat begangen wurde, schickte Schweitzer ihm ein Telegramm, in dem er ihn im Kampf gegen die Atombombe bestärkte.

ERZIEHUNG ZUM PAZIFISMUS