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Originalausgabe

© 2017 Hirnkost KG, vormals Archiv der Jugendkulturen Verlag

Lahnstraße 25

12055 Berlin

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www.jugendkulturen-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage Mai 2017

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Auslieferung Schweiz:

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E-Books, Privatkunden und Mailorder:

shop.jugendkulturen.de

Layout: Linda Kutzki

Lektorat: Gabriele Vogel

ISBN:

PRINT: 978-3-945398-30-2

PDF: 978-3-945398-31-9

EPUB: 978-3-945398-32-6

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Diese Publikation und das Gesamtprojekt wurden gefördert von Aktion Mensch

Vorwort

Klaus Farin

Für uns Großstädter_innen reimt sich auf Land sehr schnell Flucht. Land – Provinz – Kleinstadt ist das, wo man weg will, dahin, wo das wilde Leben pulsiert, in die Großstadt. Wo Punk, Techno, HipHop, Hardcore, Ultras, Skinheads, Cosplay und andere lebendige Szenen, Kulturen und Subkulturen blühen – je nach Geschmack, Style, politischer, sportlicher und musikalischer Orientierung für jeden etwas. Land bedeutet Saufen, Trachtenkapellen, Schützen- und Karnevalsvereine. Und Fußball, den gibt’s überall. Aber richtige Szenen? Aus zwei Punks im Dorf wird bestenfalls eine Skatrunde, wenn sie noch einen dritten Verrückten finden, aber niemals eine wirkliche Szene.

Land in homöopathischer Dosierung genossen ist natürlich okay – frische Luft ziehen auch Großstädter_innen gerne mal durch die Nase, und so ab und an vermisst man ja doch ein wenig Natur, vor allem, wenn man, wie ein Großteil der heutigen jungen Großstädter_innen, selbst vom Land kommt. Aber wirklich dort leben? Land ist das, wo man unverschuldet herkam, bevor das eigentliche Leben begann. Land bedeutet: Ich will hier raus!

Die Landflucht der Jungen hat oft ganz prosaische Gründe: Universitäten findet man in ländlichen Regionen eher selten. Überhaupt die beruflichen Perspektiven, geschweige denn, einen Beruf zu finden, den man wirklich Jahrzehnte ausüben möchte, sind auf dem Land eher dünn gesät. Und sich vielleicht mal eine Weile selbstständig zu machen, von Projekt zu Projekt durchzuhangeln, um herauszufinden, wo man eigentlich hin will, oder gar zu versuchen, aus seiner Leidenschaft – etwa Musik oder Mode – einen Lebensunterhalt zu machen wie die zu den Techno-Hochzeiten der 1990er Jahre rund 20.000 Menschen, die allein in Berlin mehr oder weniger von Techno lebten – das klappt auf dem Land nun einmal nicht.

Die große Mehrheit – 87 Prozent – der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Rhein-Neckar-Region lebt gerne dort. Doch drei Viertel der Befragten stellen auch fest, dass in ihrer Gemeinde „nichts los“ sei, fast jede_r Zweite ist mit den Freizeitangeboten unzufrieden. Vor allem die Jüngeren klagen über fehlende Räume für sie, in denen sie sich frei und unkontrolliert aufhalten dürfen, mit ihren Freund_innen treffen können. Besonders in den kalten Jahreszeiten wissen sie oft nicht wohin. Und nicht wenige Jugendliche fühlen sich „unerwünscht“ in ihrer Gemeinde, haben das Gefühl, ständig irgendwo vertrieben und misstrauisch beobachtet zu werden, als gehörten sie allesamt gewalttätigen Gangs an – dabei ist die große Mehrheit der Jungen so brav, integrationswillig und leistungsorientiert wie schon lange keine Generation zuvor. „Die befragten Jugendlichen sind bildungsorientiert, zukunftsoptimistisch, zufrieden, eingebunden in lokale Strukturen und verwurzelt mit ihrer Region“, fasst Nicolle Pfaff das Ergebnis ihrer Studie zusammen.

Trotzdem wandern nicht alle Jungen ab – obwohl fast jede_r Zweite sich das durchaus vorstellen kann, vor allem junge Frauen und Höherqualifizierte. Viele bleiben dann doch, weil sie es sich schlicht nicht anders leisten können, weil sie nicht zu der von Hause aus gut bestückten Bildungs- und Kulturelite ihrer Re­gion gehören, andere, weil sie gar nicht weg wollen. Es ist ja auch nicht so, dass alle darunter leiden, dass jede_r im Dorf sie kennt und jeden ihrer Schritte begleitet. Dass Rollenveränderungen eigentlich nicht vorgesehen sind. Für viele übersetzt sich die engmaschige soziale Kontrolle in Landgemeinden mit sozialer Wärme, füreinander da sein, familiale Intimität statt gesichtsloser Anonymität. Und, durchaus nicht unwichtig: Natur. Anders als etwa noch in den Jugendszenen der 1980er Jahre wird ein Leben in der Natur von den Jungen wieder als positives Qualitätsmerkmal geschätzt. Dafür nimmt man eben manches in Kauf. „Ruhe“, die immer wieder genannte Assozia­tion zum Dorfleben, ist Chance und Dilemma zugleich.

Wir erleben generell in Europa gerade eine Renaissance des Regionalpatriotismus, auch unter Jugendlichen. „Heimatliebe“ zu zeigen und auszuleben ist auch für viele Junge außerhalb von Bayern heute nicht mehr peinlich, nicht mehr per sé „rechts“ und „nationalistisch“, sondern Teil ihrer Alltagskultur und Identitätssuche. Nicht Nationalismus, sondern Regionalismus steht auf ihren Agenden – und der Wunsch nach einer Entschleunigung und Wiederüberschaubarkeit ihrer Lebensumwelt: das Dorf als Hort der Sicherheit, als Ruhepol inmitten einer sich global immer schneller und unbeeinflussbarer verändernden Welt. „Hier ist die Welt noch in Ordnung.“

Im Dorf ist die Welt noch in Ordnung?

Ist sie das wirklich? Gelingt es Dörfern und Landgemeinden wirklich noch, die Welt draußen zu halten? Wollen sie das überhaupt, vor allem die Jungen, auch die, die gerne in ihrem Dorf und in ihrer Landgemeinde leben?

Aktuelle Beobachtungen zeigen eher, dass Veränderungen, die „die Jugend“ in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat, zwar in den Städten sichtbarer zutage treten, aber auch auf dem Land stattfanden und weiter stattfinden. Freiwillige Feuerwehren, kirchliche und andere Jugendgruppen und -verbände, sogar Karnevals- und Schützenvereine klagen vielerorts über Nachwuchsmangel. Traditionen erodieren. Auch Jugendliche, die gerne in Landgemeinden leben, schließen sich nicht mehr automatisch den Jugendgruppen und Vereinen ihrer Eltern und Großeltern an. Sondern sie prüfen kritisch: Was bringt MIR das, wenn ich mich dort engagiere? Sinn und Spaß, nicht Pflichtbewusstsein motivieren Jugendliche zu Engagement. Auf dem Land nicht anders als in der Stadt. Werde ich dort, wo ich mich einbringe, akzeptiert, so wie ich bin? Werde ich auch in meiner Andersartigkeit als Jugendliche_r, was Sprache, Mode, Musik und andere Elemente meines Stils angeht, ernst genommen und respektvoll behandelt, nicht von oben herab? Kann ich von Anfang an nicht nur mitarbeiten, sondern auch mitbestimmen? Ist das Ziel unverrückbar festgeschrieben oder habe ich noch Einfluss darauf? Ist das Ziel überhaupt erreichbar, in einem absehbaren Zeitraum, nicht erst nach der Revolution oder für die nächste Generation? Ist der Weg zum Ziel spannend, aufregend, eine He­rausforderung für mich? Wird dort nur geredet, geredet, geredet oder auch gehandelt? Sind die Menschen, mit denen ich mich engagiere, nett, cool, interessant? Kann ich mir vorstellen, mit ihnen nicht nur im Verein etc. zusammenzukommen, sondern auch ganz privat eine Party zu feiern und mehr? Finde ich bei meinem Engagement vielleicht sogar nicht nur neue Freund_innen, sondern auch eine feste Beziehung?

Spaß und Sinn müssen eine Einheit bilden, will man Jugendliche motivieren, sich zu engagieren, sich an eine Gruppe zu binden, sei es auch nur auf Zeit. Das bedeutet: wirkliche Partizipation, Eigenverantwortlichkeit, die Möglichkeit eines Engagements auf Zeit, Ganzheitlichkeit (Kopf und Körper werden beansprucht), möglichst flache Hierarchien, kreative Herausforderungen, Respekt. Mit anderen Worten: Im Vergleich zwischen traditionellen Vereinen, Jugendverbänden und anderen Großorganisationen wie Kirchen oder Parteien – mit ihren oft patriarchalen, jugendfeindlichen Strukturen, nicht zu hinterfragenden Autoritäten und sinnentleerten Alte-Männer-Ritualen – und den informellen jugendkulturellen Szenen ergibt das einen eindeutigen Punktsieg für Letztere. In den Jugendkulturen fanden sich schon immer überwiegend jene zusammen, die mit den engmaschig normierten Strukturen und nicht hinterfragbaren Regeln der formellen Engagementangebote nicht klarkamen, die selbst jederzeit die Entscheidungsfreiheit behalten wollten, ob, wann, wie und mit welchen Menschen sie sich in ihrer Freizeit amüsieren und engagieren wollten. Sicher hat auch die Punk-, Gothic- oder Ultra-Szene „Gesetze“, doch die sind nirgendwo schriftlich fixiert, jede einzelne Punk-, Gothic- oder Ultra-Clique und jede_r einzelne ihrer Angehörigen entscheidet selbst, welche Regeln er oder sie befolgen möchte und welche eben nicht. Sicher gibt es auch dort wie überall im Leben Menschen, deren Meinung mehr Gewicht hat als die anderer, aber die haben es sich durch langjährige Zugehörigkeit, Witz, verbale und nonverbale Schlagfertigkeit und vor allem durch eigenes kreatives Engagement verdient und nicht, weil sie formal gewählt oder von oben ernannt wurden (was nicht bedeutet, dass unter den Gewählten oder von oben ernannten Repräsentant_innen formaler Organisationen nicht auch Engagierte und Kreative sein können).

Selbstverständlich prägen die (großstädtischen) Jugendkulturen auch Jugendliche auf dem Land. Wie sollte es auch anders sein, ist doch das world wide web längst die wichtigste Quelle und das größte Transportmittel zur Verbreitung von Jugendkulturen. Was für (eher) großstädtische Jugendkulturen schon immer galt, überträgt sich nun auf die Vereine und Organisationen auch in den Landgemeinden. Die Jugendlichen dort fordern dies explizit eher selten – sie stimmen mit den Füßen ab und bleiben den Angeboten, die sich ihnen nicht zumindest ein wenig anpassen, einfach fern. Landgemeinden und dort beheimatete Organisationen werden sich gegenüber den Bedürfnissen der jugendkulturell geprägten Jugendlichen öffnen müssen, wollen sie nicht zur jugendfreien Zone werden.

Das bedeutet neue Herausforderungen auch für die Jugendarbeit auf dem Lande – nicht zuletzt, damit aus dem „Ich bin dann mal weg“ vieler Jugendlicher vielleicht ein „Ich bleib erst mal hier“ wird.

Und das bedeutet zunächst, die Bedürfnisse der Jungen auch zu kennen. Das Archiv der Jugendkulturen entwickelte deshalb in Zusammenarbeit mit dem Postillion e. V. ein Organisationsentwicklungsmodellprojekt inklusive einer regionalen Jugendstudie, auf deren Basis gezieltes und nachhaltiges politisches und pädagogisches Handeln möglich ist. Die Besonderheit der Studie liegt darin, dass die Jugendlichen selbst aktiv eingebunden wurden: Sie wurden nicht nur befragt, sondern entwickelten in verschiedenen Settings eigene Ideen, Wünsche und Positionen. Sie erkannten dabei, dass die Erwachsenenwelt sich für ihre Perspektive interessiert und ihre Partizipation ausdrücklich erwünscht ist. Denn nachhaltige Veränderungen lassen sich heute nur noch erzielen, wenn die Zielgruppe bei der Entwicklung und Implementierung neuer Methoden selbst aktiv mitwirkt. Das gilt nicht nur für Großbauprojekte, sondern auch für die kleinteilige Beziehungsarbeit mit Jugendlichen vor Ort. Identifikation – mit der Schule, dem Jugendhaus, der Gemeinde – entsteht letztlich nur durch Teilhabe und die Erfahrung von Respekt.

Nach einem ersten Durchlauf in Waldshut-Tiengen 2013 wurde das Projekt von 2014 bis 2017 in zehn Städten und Gemeinden im Rhein-Neckar-Kreis um­gesetzt.

Auf zu neuen Ufern!

Die Offene Jugendarbeit des einst als Verein ehrenamtlich Engagierter gegründeten Postillion e. V. bot früher vor allem eine sogenannte Komm-Struktur an, d. h., Jugendliche mussten den Weg zu den Angeboten der Jugendarbeit größtenteils selbst finden, auch wenn die Postillion-Mitarbeiter_innen durchaus im Gemeinwesen präsent waren. So konnte „oft nur der dominante Teil der Jugendszene(n) aufgefangen werden und gerade diejenigen Jugendlichen fielen durch das Raster der sozialpädagogischen Fachkräfte, die Hilfe und Unterstützung am meisten benötigten“ (siehe den Postillion-Beitrag in diesem Buch). Gleichzeitig machten von Postillion e. V. und anderen durchgeführte Sozialraumstudien deutlich, dass Jugendliche sich oftmals von der Erwachsenenwelt ausgegrenzt oder diskriminiert fühlten. Hinzu kam, dass die Kommunalpolitik noch traditionell stark darauf fixiert war, die Jugendlichen mit Hilfe der Jugendarbeiter_innen von den Straßen weg in die Jugendhäuser zu bringen. So wurde die Offene und Mobile Jugendarbeit als „Instanz der Lösung von Generationenkonflikten“ eingesetzt, analysiert Nicolle Pfaff in ihrer Studie. „Der Offenen Jugendarbeit wird die Funktion der Betreuung und kommunalen Integration Jugendlicher wie auch deren räumliche ‚Verwahrung‘ zugeschrieben, wobei diese geografisch wie infrastrukturell marginalisiert werden. Mobile Jugendarbeit wird als Instanz der ‚Krisenintervention‘, Kontrolle und Disziplinierung junger Menschen gefasst.“ „Der Wunsch der Kommunen war immer, Ruhe im Gemeinwesen herzustellen“, berichtet auch Stefan Lenz. „Das bedeutet, die Plätze und Straßen jugendfrei zu machen, als Erfolg der Mobilen Jugendarbeit zu werten.“

Infolge dieser Beobachtungen bzw. Probleme in der Offenen Jugendarbeit hatte der Postillion e. V. schon ab 2009 sein System auf Mobile Jugendarbeit umgestellt. So konnten die Mitarbeiter_innen der Jugendarbeit sehr viel flexibler auf die Bedürfnisse der Jugendlichen eingehen und auf der einen Seite im Jugendhaus Angebote machen, gleichzeitig aber auch verstärkt auf der Straße präsent sein. Dennoch fehlte es bislang an geeigneten Methoden, die Beteiligung von Jugendlichen in der Jugendarbeit nicht nur als einmaliges Event, sondern dauerhaft in den Kommunen zu etablieren. Neben Methoden brauchte es auch eine neue Haltung der Fachkräfte – und der sie finanzierenden Gemeindeverwaltungen und Kommunalpolitiker_innen.

Aktion Mensch erklärte sich bereit, das Modellprojekt zur Entwicklung und Implementierung einer bedarfsorientierten Jugendarbeit drei Jahre lang zu fördern. In Zusammenarbeit mit dem Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. und der Universität Essen-Duisburg und fachplanerisch unterstützt vom Jugendamt des Rhein-Neckar-Kreis startete das Projekt mit einem groß angelegten Jugendsurvey zu den Bedarfen der ansässigen Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren. Mehr als 2.400 Jugendliche der Region wurden dabei befragt. Weit über 100 Jugendliche nahmen an parallel stattfindenden Kreativworkshops teil. Diese Bedarfsabfrage war einmalig und diente der Diskussion mit den Kommunen. Mit Fortbildungen und Exkursionen der Postillion-Mitarbeiter_innen wurden Veränderungen der Arbeit angestrebt. Im abschließenden Sachbeitrag dieses Buches von Stefan Lenz werden einzelne (methodische) Verfahrensweisen, auf die die Offene und Mobile Jugendarbeit in der Praxis bisher zurückgreift oder zukünftig zurückgreifen kann, in ihren Potentialen und Schwierigkeiten genauer erläutert.

Die Offene Jugendarbeit wird sich verändern

Die Offene Jugendarbeit wird sich verändern. Nicht nur, weil die Jugendlichen sich verändern, sondern auch, weil in Zeiten knapper werdender Ressourcen und einer immer älter werdenden Gesellschaft, in der „Jugend“ unfreiwillig in eine aussichtslose Konkurrenz zu ihren Großeltern gerät, der Druck auf sie wächst. Aus Sicht vieler kommunalpolitisch Verantwortlicher – auch das hat diese Studie ergeben – hat die Jugendarbeit ohnehin zuvorderst eine ordnungspolitische Funktion: Sie soll Störungen im öffentlichen Raum durch Jugendliche mit ihrer überbordenden Energie beseitigen oder präventiv verhindern. Tendenziell besteht hier also ein latenter Interessenkonflikt für die Jugendarbeit, deren tragende Säulen kreatives Engagement und Partizipation der Jugendlichen sind, die sich häufig jener annimmt, die viele Probleme haben und viele(n) Probleme machen, aber aus der Perspektive der Politik – derjenigen, die entscheiden, ob überhaupt professionelle Jugendarbeit sein darf und für wen und unter welchen Rahmenbedingungen – primär jugendliche Ruhestörer_innen ruhigstellen und damit erwachsene Wähler_innen beruhigen soll. Die Jugendarbeit will Jugendliche fördern, unterstützen, auf ihrem bisweilen schwierigen Weg zu selbst denkenden, selbstbewussten und selbstständigen Menschen begleiten, stellt nicht ihre Defizite in den Mittelpunkt, wie sie es ohnehin tagtäglich, zum Beispiel in der Schule, erleben – „Du kannst nichts, du bist nichts, aus dir wird nichts!“ –, sondern ihre Talente, ihr Potential. Diese Lobbyarbeit für Jugendliche zu betreiben ist schwierig in Zeiten, in denen diese – völlig losgelöst von der Realität – in erster Linie als Bedrohung wahrgenommen werden. Bundesweit lässt sich die Tendenz beobachten, dass die Jugendarbeit immer stärker in die Pflicht genommen wird, die bürgerliche Gesellschaft vor ihrer Jugend zu schützen; die Einrichtung von Stellen und die Vergabe von Projekt- und anderen Fördermitteln werden immer stärker an negativ stigmatisierende Jugendbeschreibungen und repressive Vorgaben und Ziele geknüpft. Pädagogisch und „jugendschützerisch“ verbrämt werden jugendliche Freiräume immer weiter eingeschränkt. Die Jugend ist heute von einem „pädagogischen System fürsorglicher Belagerung“ umstellt, „das ausufernde Präventionsdenken in unserer Gesellschaft stattet sich mit immer rigideren Kontrollwünschen aus, welches ganz besonders Jugendliche betrifft“, stellt Werner Lindner, Professor für Sozialwesen in Jena, fest. Sein Fazit lautet, dass es „öffentliche, frei zugängliche und unverzweckte Räume, also Räume ohne vorab festgelegte Funktionserwartungen, kaum mehr gibt. Die Alltags- und Lebenswelten von Jugendlichen – insbesondere in den Städten – werden zusehends funktionalisiert, verdichtet, kommerzialisiert und der öffentlichen Überwachung und Kontrolle unterworfen.“ (Lindner 2011, S. 106; 110)

Immer häufiger muss sich die Offene Jugendarbeit dafür rechtfertigen, dass sie meist nur für bestimmte Jugendliche arbeitet und nicht alle erreicht. Doch aus Sicht der Jugendarbeit, die sich stets als Lobby für und nicht gegen Jugendliche identifiziert, zeigt sich die Qualität der Jugendarbeit und -förderung nicht in den „Leuchttürmen“, den Festivals und anderen affirmativen Großevents, die der Gemeinde durch bunte Jugendprojekte ein junges Image schenken, sondern darin, wie die erwachsene Mehrheitsgesellschaft mit dem umgeht, was die Bürgerkultur eigentlich nicht mag – etwa mit der nicht autorisierten Wiederaneignung des öffentlichen Raums durch Punk, Graffiti, Street Art, Parcours oder andere Straßencliquen.

Die Offene Jugendarbeit erreicht immer nur Minderheiten, und das ist gut so! „Aus bundesweiten Studien ist bekannt, dass im Alter zwischen 12 und 21 Jahren etwa 8–10 % regelmäßig und weitere 20 % gelegentlich Angebote der Offenen Jugendarbeit nutzen“, fasst Nicolle Pfaff die Ergebnisse der Forschung zusammen. Besucher_innen der Offenen Jugendarbeit sind:

Das bedeutet: Für mindestens jede_n zehnte_n Jugendliche_n in Deutschland sind die Angebote der Offenen Jugendarbeit bedeutende und nachhaltig wirkende Momente ihrer Freizeitgestaltung und die Mitarbeiter_ innen oft erste Ansprechpartner_innen, wenn Beratungsbedarf entsteht. Und ein Großteil dieser Jugendlichen hat keine Alternativen: Die kommerziellen An­gebote können sie sich finanziell nicht leisten oder sie werden dort aus rassistischen Gründen ausgegrenzt oder schon die Programmpalette macht deutlich: Ihr seid hier nicht erwünscht! Die Offene Jugendarbeit ist für diese Jugendlichen oft die einzige Möglichkeit, gemeinsam mit ihren Peers am aktuellen jugendkulturellen Geschehen aktiv teilzuhaben, sich durch eigenes kreatives Engagement Respekt und Anerkennung zu erwerben. Das Selbstverständnis der meisten Jugendhäuser und -treffs, ein „Haus für alle“ zu sein, und die nicht nachlassenden Versuche der Mitarbeiter_innen, das Spektrum ihrer Besucher_innen zu erweitern, steht dazu nicht im Widerspruch: Selbstverständlich darf niemand von den Angeboten der Offenen Jugendarbeit ausgeschlossen werden (vor allem, wenn es in einem Ort nur ein Jugendhaus gibt), doch dies darf nie um den Preis der Aufgabe des eigenen Profils zugunsten eines Anything Goes, das niemanden mehr befriedigt, und auf Kosten des Stammpublikums gehen. Denn für dieses – zehn Prozent der Jugendlichen in Deutschland – ist die Offene Jugendarbeit eine Erfolgsgeschichte.

Und doch wird die Offene Jugendarbeit sich auch deshalb verändern müssen, weil sie diese und andere Jugendliche immer schwieriger erreicht. Jugendliche verbringen ihre Freizeit schon längst nicht mehr an nur einem Ort. Sie sind heute mobiler und flexibler als jede frühere Generation, bewegen sich selten nur in einem Stadtteil oder einer Gemeinde. Die sozialen Netzwerke erweiterten einerseits die Möglichkeiten der Offenen Jugendarbeit, weil nun Jugendliche in Echtzeit über WhatsApp, SIMSme, Facebook etc. z. B. über aktuelle Angebote und Öffnungszeiten informiert werden können, bedeuten aber andererseits auch, dass Jugendliche nicht mehr einen gemeinsamen Ort wie ein Jugendhaus aufsuchen müssen, um sich zu verabreden oder miteinander zu kommunizieren. Eine Offene Jugendarbeit ohne mobile Anteile wird in der Zukunft nicht mehr überlebensfähig sein.

Zudem ist die Mobile Jugendarbeit die demokratischste Form der Jugendarbeit bzw. die mit den meisten Beteiligungsrechten für Jugendliche. Denn die „Mobilen“ treffen Jugendliche nicht in den trägereigenen Räumen, wo sie es zumeist sind, die die Schlüsselgewalt besitzen und über die Hausordnung entscheiden, sondern an ihren jugendeigenen Treffpunkten, dort, wo sie in ihrer Freizeit „zuhause“ sind und entscheiden, ob und nach welchen Regeln sie mit den Jugendarbeiter_innen reden wollen oder nicht. Wenn die Jugendlichen etwas (durchsetzen) wollen, müssen sie sich selbst dafür engagieren, denn Mobile Jugendarbeiter_innen unterstützen sie gerne mit Rat und Tat, kommen aber in der Regel nicht mit einer bunten Angebotspalette daher, sondern reagieren auf Bedarfe der Jugendlichen.

Um die Mobile Jugendarbeit der Zukunft zu stärken und auszubauen, bedarf es nicht nur Änderungen in der Haltung der Mitarbeiter_innen, die bisher gewohnt waren, dass ihr Arbeitsplatz eine eindeutige Postanschrift hat, sondern auch der kommunalpolitisch und finanziell Verantwortlichen, die sich davon werden lösen müssen, dass möglichst viele Arbeitsstunden in die Öffnungszeiten von Jugendtreffs gesteckt werden sollten.

Und das sind nicht die einzigen Herausforderungen, denen sich die Jugendarbeit und die sie tragenden Ver­bände, Gemeindeverwaltungen und kommunalpolitisch Verantwortlichen stellen müssen.

Herausforderungen für die Jugendarbeit von Trägern und Kommunen in der Zukunft

1. Die Geschlechterverhältnisse und -sichtweisen der Jungen ändern sich; geschlechtersensible Wahrnehmungen, aber auch entsprechende Personalstrukturen seitens der Träger, sind jedoch längst noch nicht Alltag. Die explodierende Gender-Forschung an den Universitäten und Fachhochschulen mit derzeit weit über 100 Professuren mit einer Denomination für Gender Studies allein in Deutschland (siehe die Datensammlung www.database.mvbz.org/database.php) erschöpft sich als relativ junger Forschungsbereich noch weitgehend in Inhouse-Theorie-Diskursen und hat die Praxis noch lange nicht erreicht. Im realen Leben werden feministische Empowermentstrategien für die Mädchen- und Jungenarbeit heute, da man sich allerorts empathisch den benachteiligten Jungen zuwendet, skeptizistischer betrachtet als noch vor einem Jahrzehnt. Jungenarbeit ist in der Jugendarbeit häufig noch lediglich nichtreflektierende Jugendarbeit „zufälligerweise“ mit Jungen, weil die eben die Angebote zum Beispiel im HipHop-Bereich häufiger nutzen als Mädchen. Rappen und Kickern ausschließlich mit Jungen ist jedoch noch lange keine Jungenarbeit …

2. Trotz jahrzehntelanger Präsenz von Jugendlichen mit Migrationshintergrund auch in der Jugendarbeit sind Diversity und Inklusion heute häufig immer noch nur gern verwendete Schlagworte für Projektförderanträge, aber nicht alltägliche Realität der postmigrantischen Jugendarbeit. (Zum Begriff der „postmigrantischen Gesellschaft“ siehe vor allem die Veröffentlichungen und wunderbaren Vorträge von Mark Terkessidis, etwa: www.br.de/interkulturell/interkulturelle-tagung-terkessidis-100.html oder www.youtube.com/watch?v=OGUDg6Jyg8c.) Hier sind die Projekte und Strukturen der (sozio-)kulturellen Bildung und verbandlichen wie Offenen Jugendarbeit kaum besser als die der „Hochkultur“: Künstler_innen, Dozent_innen, Hauptamtliche und andere Engagierte mit Migrationshintergrund werden in der (jugend-)kulturellen Bildung, der Offenen und Verbandsjugendarbeit nach wie vor in ihrem Engagement auf „ihr“ Thema Migration/Rassismus festgelegt und finden sich nur selten als Entscheidungsträger_innen hinter den Kulissen, als Regisseur_innen, Dramaturg_innen, in den Leitungsgremien von Jugendmusik- oder -kunstschulen, -theatern oder soziokulturellen Zentren, Sportvereinen und Verbänden. Jedes zweite Kind, das im kommenden Schuljahr in Deutschland eingeschult werden wird, wird einen Migrationshintergrund haben. Nicht einmal jedes zehnte von ihnen wird im Laufe seines Lebens, sollte sich nichts ändern, ein deutsches Theater, Museum, eine Kunst- oder Musikschule, einen Schwimm- oder Tennisverein besuchen. Drei Viertel dieser Kinder werden weder bei den Pfadfinder_innen noch der Freiwilligen Feuerwehr, beim Deutschen Roten Kreuz oder anderen Freiwilligenorganisationen und Jugendverbänden landen, die gleichzeitig händeringend um Nachwuchs kämpfen, weil ihnen an allen Ecken Mitglieder und ehrenamtlich Engagierte zum Beispiel zur Erfüllung ihrer gemeinnützigen Tätigkeiten fehlen. In Zeiten, in denen die „biodeutschen“ Jugendlichen zur Minderheit in Schule, Ausbildung und Jugendarbeit werden (in vielen Großstädten bereits geworden sind), muss interkulturelle Kompetenz vom politisch proklamierten Ziel zur professionellen Selbstverständlichkeit der beteiligten Einrichtungen, Träger und Verbände werden.

Möglicherweise liegt hier in der Zunahme von Ge­flüchteten und der dadurch forcierten gesellschaftlichen Debatte eine Chance der positiven Sensibilisierung für das Thema. Schon heute haben zum Beispiel Dörfer in Brandenburg und Thüringen damit begonnen, um Geflüchtetenfamilien zu werben – um zum Beispiel die Schließung von Schulen und anderen gefährdeten Infrastruktureinrichtungen noch abzuwenden oder dringend benötigte Arbeitskräfte zu bekommen.

3. Die Jugend selbst, so engagiert sie auch sein mag, hat keine Chance, ihre Situation zu verbessern. Sie braucht Bündnispartner_innen bei den älteren Generationen. Jugendarbeit, die nicht zur bloßen (Freizeit-)Pädagogik und PR-Show gerinnen will, wird verstärkt intergenerative Lobbyarbeit betreiben und sich (wieder) politisieren müssen.

Die Arbeit des Postillion e. V. und das in diesem Buch dokumentierte Modellprojekt zeigen, wie dies gelingen kann. Wie eine engagierte Jugendarbeit gemeinsam mit den kommunal Verantwortlichen etwas für Jugendliche bewegen kann. „Das Buch ist zunächst von regionalem Interesse. Es soll einer Standortbestimmung dienen und die Ausgestaltung der Jugendarbeit im Rhein-Neckar-Kreis vorantreiben“, schreibt der Postillion-Geschäftsführer Stefan Lenz in seinem einführenden Beitrag. Hier muss widersprochen werden: Die im Rhein-Neckar-Kreis erhobenen Daten lassen sich auf viele andere Landgemeinden in Deutschland übertragen. Aber vor allem das Beispiel dieses Projektes kann und soll andere für die Jugend Engagierte anregen und motivieren, es auch einmal zu versuchen. So wie „die Jugend“ selbst, so erregt auch die Jugendarbeit meist nur dann öffentliche Aufmerksamkeit, wenn etwas mächtig danebengegangen ist, wenn Gewalt, Extremismus, exzessiver Rauschmittelkonsum oder ähnliches ins Spiel kommen. Viel zu selten erfahren wir von positiven Beispielen einer gelungenen Jugendarbeit. Hier ist eine Erfolgs­geschichte.

Quellen

Archiv der Jugendkulturen e. V. (Hrsg.): Ich bleib erst mal hier – Jugend in Waldshut-Tiengen. Berlin 2014.

Archiv der Jugendkulturen e. V. (Hrsg.): Jugendkulturelle Projekte in Jugendarbeit und Schule. Berlin 2012.

Farin, Klaus: Über die Jugend und andere Krankheiten. Berlin 2008.

Heinzlmaier, Bernhard: Performer, Styler, Egoisten. Über eine Jugend, der die Alten die Ideale abgewöhnt haben. Berlin 2013.

Lindner, Werner: „Lebenssituationen junger Menschen in Bezug auf die Veränderung von Zeit, Raum und Lebensort“, in: Kammerer, Bernd (Hrsg.): Chancen und Herausforderungen der Kinder- und Jugendarbeit. Nürnberger Forum der Kinder- und Jugendarbeit. Nürnberg 2011, S. 103–116.

Margherita-von-Brentano-Zentrum, Freie Universität Berlin: Datensammlung Geschlechterforschung. www.database.mvbz.org/database.php (04.02.2017).

Pothmann, J./Schmidt, H.: „Datenlage zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit – Bilanzierung empirischer Erkenntnisse“, in: Deinet, U./Sturzenhecker, B. (Hrsg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit, 4. Aufl. Wiesbaden 2013, S. 537–548.